1. Religion – die große Unbekannte

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WAS IST RELIGION?

Religion kann vieles sein. Gebäude, Bücher, Kunst, Essen, Kleidung, Handlungen, Geschichten usw. können Religion sein. Vor allem aber sind es die vielen und äußerst unterschiedlichen Menschen, die Religion ausmachen.
Religion kann zu selbstlosem, herzlichem und bewundernswertem menschlichem Handeln führen, aber auch zu Gewalt, Mord, Zerstörung und zur Unterdrückung anderer Menschen. Durch die Berufung auf Mythen, auf Gebote eines Gottes und heilige Schriften werden unmoralische Vergehen als moralische Taten und gottesfürchtige Aufopferung ausgewiesen. Der Gottesgläubige erscheint als Märtyrer und nicht als Krimineller.
Religion manifestiert sich oft in umfangreichen Regeln, die dem Gläubigen vorgeben, wie er zu essen und zu trinken, zu schlafen und zu lieben hat oder welchen Platz er in der Familie und der Gesellschaft einzunehmen hat. Manche Menschen richten ihr gesamtes Leben nach religiösen Regeln und Wertvorstellungen, andere Anhänger derselben Religion halten diese hingegen nur zu bestimmten Anlässen als verbindlich. Wieder andere wenden sich sogar komplett von ihr ab oder stehen ihr gleichgültig gegenüber. Religion ist für viele Menschen eng verbunden mit der eigenen Nationalität oder Ethnizität. Da sie in die Religionsgemeinschaft ihrer Eltern hineingeboren werden, erscheint es ihnen selbstverständlich, diese ohne weiteres anzunehmen. Andere sehen die Religionszugehörigkeit in der individuellen und bewusst getroffenen Entscheidung seitens des Einzelnen begründet.
Viele Menschen sehen Religion als eine lebenslange Verpflichtung. Andere hingegen sehen es als ganz natürlich an, dass ein als frei und unabhängig verstandenens Individuum innerhalb seines Lebens seine Religions- und Glaubensangehörigkeit auch mehrfach wechseln kann.
Mit anderen Worten: Religion ist ein vielschichtiges und vieldeutiges Phänomen. Es lässt sich nicht auf einen Nenner bringen. Religion ist das, was religiöse und nicht-religiöse Menschen, Politiker und Wissenschaftler daraus machen.

Wer soll Religion wie definieren?

Es gibt bereits eine Vielzahl kurzer Bestimmungen von Religion , die sowohl den gängigen epistemologischen Anforderungen gerecht werden als auch die Vielfalt jener Phänomene erfassen, die im Laufe der Zeit und aus verschiedenen Perspektiven mit dem Prädikat „religiös“ belegt wurden und dadurch von „Kultur“, „Kunst“, „Architektur“ oder „Ethik“ geschieden werden konnten. Eine mögliche Definition ist die folgende: Religion ist ein kulturelles Subsystem, das sich von anderen kulturellen Subsystemen durch den Bezug auf eine angenommene übermenschliche Instanz unterscheidet, deren Existenz weder falsifiziert noch verifiziert werden kann.
Wer bestimmt nun, was als „Religion“ bezeichnet werden kann? Wissenschaftler? Anhänger einer Glaubensgemeinschaft? Das Gericht? Diese Fragestellung ist von großem Interesse für die Religionswissenschaft. Die multikulturelle und multireligiöse Welt, in der wir heute leben, macht eine ständige wissenschaftliche, politische und rechtliche Diskussion notwendig: Was ist Religion, welche Rechte haben bestimme Religionen und deren Anhänger? Wie soll der nicht-religiöse, säkulare Teil der Gesellschaft mit den verschiedenen Gruppen umgehen, die aus einem oder anderem Grund als „religiös“ bezeichnet werden können?

Der folgende Text basiert auf der englischsprachigen Einleitung zu Horisont, einem Lehrbuch für den Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe in Dänemark. Das Buch wurde von den Professoren Annika Hvithammer und Tim Jensen sowie den Gymnasiallehrern Allan Ahle und Lene Niebuhr herausgegeben und ist 2013 im Gyldendal Verlag in Kopenhagen erschienen. Ursprünglich wurde die Einleitung von Annika Hvithammer und Tim Jensen verfasst.