2. Geschichte und Ansätze der Religionswissenschaft

Quelle 1

XENOFANES über Religion

Viele Aspekte der späteren wissenschaftlichen Ansätze in der Religionswissenschaft haben ihren Ursprung in der antiken Kultur der Griechen und Römer. So reicht die Wahrung kritischer Distanz zur eigenen Religion und das Interesse, Götter, Rituale und Religionen einen Vergleich zu unterziehen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede auszumachen, bis in die Antike zurück. Nicht nur das Auffinden von Gemeinsamkeiten und Unterschiede steht beim Vergleich im Mittelpunkt, sondern auch die Beantwortung der Frage, warum dies so ist. Der Philosoph Xenophanes (ca. 580-485 v.Chr.) ist berühmt für folgende Aussage: Wenn Rinder, Pferde und Löwen Hände hätten und mit diesen Händen malen könnten, so würden sie wie Menschen ihre Götter nach ihrem eigenen Vorbild schaffen.
Xenophanes war kein Atheist, aber er stand der herrschenden Religion seiner Zeit - einer polytheistischen Religion mit anthropomorphen (menschenähnlichen) Göttern - kritisch gegenüber. Mit seinen Ansichten hat er den Grundstein für spätere Religionstheorien gelegt, die davon ausgehen, dass es dem Menschen ein zutiefst eigenes Anliegen sei, aus Furcht vor den wilden Mächten der Natur, die umgebende Welt mit anthropomorphen Wesen zu versehen und z. B. mittels Gebet und Opfergaben mit den Naturgewalten in Verbindung zu treten.
Xenophanes Aussagen weisen bereits auf eine Überzeugung hin, die den Ausgangspunkt religionswissenschaftlicher Methodologie und Kritik bildet: Götter werden von Menschen und Gesellschaften erschaffen und nicht umgekehrt.


Quelle 2

TEILNEHMER- UND BEOBACHTERPERSPEKTIVE

In der Religionswissenschaft spielt die Perspektive eine wichtige Rolle. Dabei ist der Unterschied zwischen der Teilnehmerperspektive (emisch), der Perspektive der religiösen Personen und Glaubensanhängern einerseits, und der Beobachterperspektive (etisch), der Perspektive der Wissenschaftler und Forscher andererseits, besonders wichtig.
Solch eine Unterscheidung ist von zentraler Bedeutung, da die Religionswissenschaft beansprucht, die Analyse und den Vergleich aller Religionen und religiöser Phänomene möglichst unparteiisch und wertfrei vorzunehmen – auch wenn es sich dabei um die Religion handelt, die der Wissenschaftler selbst zugehörig ist.
Wissenschaftler sind darum bemüht, die Ausdrucksweisen und die Auffassungen von Glaubensanhängern zu verstehen und diese mit Bedacht zu beschreiben. Dennoch müssen Forscher einen Schritt weiter gehen: Sie müssen Religion mit anderen Worten und auf andere Weisen interpretieren und erklären als dies die Teilnehmer selbst tun wollen und können. Die Aufgabe der Religionswissenschaft ist die Analyse von Religion in Bezug auf allgemeinere Evolutions- und Gesellschaftstheorien sowie ihre Erklärung vor dem Hintergrund anderer Religionen und religiöser Phänomene.

Quelle 3

Religionswissenschaft als akademische Disziplin

Die Religionswissenschaft hat die analytische, kritische, pluralistische und vergleichende Betrachtung von Religion und religiösen Phänomenen zum Gegenstand.
Kritisch-analytisch meint dabei die Untersuchung, Interpretation und Erklärung des Begriffs „Religion“ und der Religionen im kulturgeschichtlichen Kontext. Eine kritisch-analytische Herangehensweise bedeutet außerdem, dass religiöse Aussagen, Texte, Institutionen etc. nicht wörtlich zu verstehen sind, sondern ebenso wie andere Aussagen, Texte und Institutionen einer Analyse unterzogen werden müssen. Der ursprüngliche Zweck eines Textes muss daher wieder hergestellt werden: Wie und weshalb wurde der Text verfasst, wie wurde er damals verstanden und welchem Nutzen diente er? Wie wurde der Text im Laufe der Geschichte bis heute interpretiert und auf neue und andere Weise genutzt? Diese Herangehensweise verdeutlicht, wie die aktive Auslegung und unterschiedliche Nutzung der Texte durch nachfolgende Generationen und verschiedene Menschen (Experten und Laien, Männer und Frauen) Religion „hervorbringt“. Außerdem wird Religion in der Religionswissenschaft als ein dynamisches und historisches Phänomen dargestellt, das sich auf kollektiver als auch auf individueller Ebene ereignet.
Pluralistisch und vergleichend bedeutet, dass die Religionswissenschaft sich mit allen Religionen beschäftigt. Keine Religion wird als die wahre Religion angesehen. Religionswissenschaft basiert nicht auf dem Selbstverständnis einer einzigen Religion oder ihrer Vorstellung von einer wahren Religion. Alle Religionen werden sowohl qualitativ als auch methodologisch gleich behandelt innerhalb eines analytischen und konzeptuellen Rahmens, der nicht von einer Religion geprägt, sondern vielmehr das Ergebnis pluralistischer, interkultureller und vergleichender Untersuchungen verschiedener Religionen und religiöser Phänomene ist. Phänomene wie Rituale, Mythen, religiöse Instanzen, religiöse Texte und Vorstellungen von Leben und Tod werden vergleichend betrachtet. Die Analyse und Interpretation religiöser Phänomene eines bestimmten geschichtlichen Kontexts (z.B. die christliche Taufe) erfordert die konkrete Positionierung des Phänomens im Kontext ähnlicher Phänomene (e.g. Übergangsriten oder Initiierungszeremonien). Vergleiche werden nicht primär für die Etablierung von Ähnlichkeiten, sondern gleichermaßen auch von Unterschieden zwischen den historischen und kulturellen Kontexten genutzt, die auf die verschiedenen religiösen und kulturhistorischen Kontexte zurückzuführen sind.
Einer der ersten Religionswissenschaftler, der Philologe und Orientalist Max Müller (1823 – 1900), ist für folgende Worte bekannt: „Wer nur eine kennt, kennt keine“ – kennt man nur seine eigene religiöse Tradition, so weiß man nicht, worüber man spricht, da die Kultur, in der man aufgewachsen ist, die eigenen Denkmuster und Ansichten größtenteils bestimmt. Religiöse Fachkenntnis hingegen bedarf aber der Fähigkeit, zwischen den vielen verschiedenen Sprachen der Religionen zu übersetzen. Dies ist auch die Grundannahme der Religionswissenschaft. Betrachtet man Religion als Sprache, so geht man heute jedoch immer mehr davon aus, dass diese Sprache zahlreiche Varietäten, umgangssprachliche Ausdrücke und unverständliche Wörter aufweist. Außerdem wird diese Sprache sehr unterschiedlich genutzt von Menschen in religiösen Führungspositionen und der Allgemeinheit, in ländlichen und urbanen Regionen, in der heutigen und antiken Gesellschaft oder in Asien und Europa.

Die Texte basieren auf der englischsprachigen Einleitung zu Horisont, einem Lehrbuch für den Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe in Dänemark. Das Buch wurde von den Professoren Annika Hvithammer und Tim Jensen sowie den Gymnasiallehrern Allan Ahle und Lene Niebuhr herausgegeben und ist 2013 im Gyldendal Verlag in Kopenhagen erschienen. Ursprünglich wurde die Einleitung von Annika Hvithammer und Tim Jensen verfasst.