8. Die hinduistische Sicht der Gesellschaft

Quelle 1

Rgveda X, 90

Die Rigvedas, eine der vier Schriftsammlungen, die als Veden bezeichnet werden, sind die ältesten heiligen Schriften Indiens. Die Rigvedas enthalten die Hymnen zur Feier der verschiedenen Götter. Diese Hymne enthält den Mythos von der Opferung des Purusha, eines gewaltigen Urmenschen. Dieser Mythos ist deshalb von zentraler Bedeutung, da er neben der Erschaffung des physischen Universums auch die Existenz des Kastenwesens, der indischen Gesellschaftsordnung, erklärt. Die vier Hauptkasten (Priester, Krieger, Bauern und Arbeiter) können auf den Mythos des Purusha zurückgeführt werden.

1 Tausendköpfig, tausendäugig, tausendfüßig ist Purusa; er bedeckte vollsständig die Erde und erhob sich noch zehn Finger darüber.
2 Purusa allein ist diese ganze Welt, die vergangene und die zukünftige, und er ist der Herr über die Unsterblichkeit (und auch über das), was durch Speise noch weiter wächst.
3 Solches ist seine Größe und noch gewaltiger als dies ist Purusa. Ein Viertel von ihm sind alle Geschöpfe, drei Viertel von ihm ist das Unsterbliche im Himmel.
4 Zu drei Viertel stieg Purusa empor, ein Viertel von ihm verjüngte sich hienieden. Von dem aus ging er nach allen Seiten auseinander und (erstreckte sich) über alles was Speise ißt und was nicht ißt.
5 Aus ihm ward die Viraj geboren, aus der Viraj der Purusa. Geboren ragte er hinten und vorn über die Erde hinaus.
6 Als die Götter mit Purusa als Opfergabe das Opfer vollzogen, da war der Frühling dessen Schmelzbutter, der Sommer das Brennholz, der Herbst die Opfergabe.
7 Ihn besprengten (weihten) sie als das Opfer auf dem Barhis, den am Anfang geborenen Purusa. Diesen brachten die Götter, die Sadhya’s und die RSi’s sich zum Opfer.
8 Aus diesem vollständig geopferten Opfer wurde das Opferschmalz gewonnen. Das machte er zu den in der Luft, im Wald und im Dorfe lebenden Tieren.
9 Aus diesem vollständig geopferten Opfer entstanden die Verse und Sangesweisen, aus ihm entstanden die Metren, aus ihm entstand der Opferspruch.
10 Aus ihm entstanden die Rosse und alle Tiere mit doppelter Zahnreihe, aus ihm entstanden die Rinder, aus ihm sind die Ziegen und Schafe entstanden.
11 Als sie den Purusa auseinander legten, in wie viele Teile teilten sie ihn? Was ward sein Mund, was seine Arme, was werden seine Schenkel, (was) seine Füße genannt?
12 Sein Mund ward zum Brahamen, seine beiden Arme wurden zum Rijanya gemacht, seine beiden Schenkel zum Vaisya, aus seinen Füßen entstand der Sudra.
[...]
14 Aus dem Nabel ward der Luftraum, aus dem Haupte ging der Himmel hervor, aus den Füßen die Erde, aus dem Ohre die Weltgegenden. So regelten sie die Welten.

Aus: Michel, Peter (2008): Rig-Veda. Das heilige Wissen Indiens. In der Übers. von Karl-Friedrich Geldner. Hrsg. und eingel. von Peter Michel. 2. Band. Wiesbaden: Marixverl., S. 286 – 288.

Quelle 2

Bhagavadgita, Kapitel 18, Vers 42 – 47

Ein Auszug aus der Bhagavad Gita, einem Schriftstück mit 700 Versen, das Teil des größeren hinduistischen Epos Mahabharata ist. Der Text ist dem Hinduismus heilig, da er sich mit vielfältigen religiösen und moralischen Belangen befasst. In diesem Auszug wird die ausgesprochen enge und heilige Natur der Unterteilung in soziale Klassen erklärt.

42)Ruhe, Selbstbeherrschung, Buße, Reinheit, Geduld und Redlichkeit, Rechtes Wissen und Gläubigkeit ist Priesters (=Brahmins) Pflicht, nach seiner Art.
43)Heldenmut, Kraft und Festigkeit, Geschick im Kampf, Furchtlosigkeit, Spenden und rechtes Herrentum ist Adels (=Kshatriyas) Pflicht, nach seiner Art.
44)Viehzucht, Ackerbau und Handel ist Volkes(=Vaishyas) Pflicht, nach seiner Art, Im Dienen bloß besteht die Pflicht für den Shudra, nach seiner Art.
45)Wer Freude hat an seiner Pflicht, der Mann erlangt Vollkommenheit; Wie man, seines Tuns sich freuend, Vollendung findet, höre das!
46)DEN, von dem die Wesen stammen, von dem das All geschaffen ist, DEN durch seine Taten ehrend, erlangt Vollendung hier der Mensch.
47)Wie sie auch sei, die eigne Pflicht ist besser stets als fremde Pflicht; Bleibt man treu dem eignen Wesen, dann bleibt man frei von aller Schuld.

Aus: Schroeder, Leopold von (1922): Bhagavadgita des Erhabenen Sang; [Mahābhārata]. Übertr. von Leopold von Schroeder. Düsseldorf, Köln: Diederichs.
Online abrufbar unter URL: http://12koerbe.de/hanumans/gita-18.htm (13.01.2015)./p>