1. Was bedeutet Religionsphilosophie?
Religionsphilosophie
Die Begegnung zwischen Philosophie und Theologie in Westeuropa zur Zeit des Mittelalters setzte Diskussionen in Gang, die bis heute andauern. Dabei handelt es sich um Diskussionen über die Beziehung zwischen Glauben und Wissen, über die Frage, warum Gott, wenn er allmächtig und gut ist, dennoch das Böse in der Welt zulassen kann, sowie Diskussionen über das Bestehen eines freien Willens, wenn Gott alles vorherbestimmt.
Diese Fragen, die vornehmlich im Umfeld der monotheistischen Religionen der westlichen Welt entstanden sind, können als die traditionellen Themen der Religionsphilosophie angesehen werden. Eine andere traditionelle Form der Religionsphilosophie ist die Reflexion der Philosophen über die Religion im Allgemeinen. Berühmte Beispiele der Geschichte hierfür sind unter anderem die Theorien von David Hume (1711-1767) über den Ursprung und den Zweck von Religion; Immanuel Kants (1724-1804) Argumente, wonach religiöse Aussagen nicht beweisbar sind, sowie Friedrich Nietzsches (1844-1900) Auffassung von Religion als eines mächtigen Instruments für den schwachen Menschen und einer „tröstenden Illusion“, die dazu dienen soll, das Chaos der brutalen Wirklichkeit zu vertuschen.
In jüngerer Vergangenheit wurden philosophische Debatten zum Thema Religion beispielsweise von philosophischen Sprachtheorien angeregt. Während dies zu Erörterungen von Bedeutung und Wahrheit im Hinblick auf religiöse Sprache geführt hat, zielen Überlegungen der politischen Philosophie auf das Thema Religion im öffentlichen Raum sowie auf Minderheitenrechte ab. Darüber hinaus hat die Wissenschaftstheorie Fragen zur Beziehung zwischen Religion und Wissenschaft aufgeworfen. Demnach lassen sich die zentralen Debatten zu Theorie und Methoden in der Religionswissenschaft auch anhand philosophischer Überlegungen veranschaulichen.
Im Gegensatz zur empirischen Religionswissenschaft arbeitet die Religionsphilosophie auch mit sogenannten normativen Fragen zum möglichen Wahrheitsgehalt und zu den Wertvorstellungen verschiedener Religionen. Dementsprechend wird möglicherweise auch diskutiert, ob das rituelle Schlachten von Tieren moralisch akzeptabel ist, oder ob das Gesetz des Karma wahr sein kann, wenn es besagt, dass das Handeln der Individuen sich auf deren späteres Leben auswirkt.
Die Methoden und Ziele der Religionsphilosophie
Die Religionsphilosophie hebt sich von anderen Ansätzen wie etwa der Soziologie oder Religionsgeschichte ab, da ihre Methoden in erster Linie nicht empirische sind. Stattdessen umfasst die Religionsphilosophie philosophische Erklärungen von Konzepten sowie Analysen und Bewertungen von Argumenten und Annahmen, aber auch Theorien zur Beziehung zwischen Religion und Moral oder zu der Frage, wodurch Religion eigentlich definiert ist. Allerdings kann, wie es auch bei anderen religionswissenschaftlichen Ansätzen der Fall ist, die Grenze zwischen Religionsphilosophie und empirischer Religionswissenschaft nicht immer klar gezogen werden.
Ein Merkmal der Religionsphilosophie ist ihr Interesse an Fragen nach dem Wahrheitsgehalt von Religionstheorien und Postulaten und dem moralischen Wert religiöser Praktiken. Während andere Bereiche der Religionswissenschaft typischerweise, und häufig unter Verweis auf methodologischen Agnostizismus, Normativität und Präskription zu vermeiden versuchen und sich nicht mit der Frage befassen, ob die Gottheiten des Hinduismus existieren oder ob Polygamie moralisch zu befürworten ist, stellt die Religionsphilosophie auch derartige Fragen zur Diskussion. Ein Beispiel: Ein Religionssoziologe untersucht möglicherweise die Rolle der Religion im öffentlichen Raum. Ein Religionsphilosoph dagegen wird sich wahrscheinlich eher die Frage stellen, ob Religion überhaupt eine Rolle im öffentlichen Raum einnehmen sollte.
Die Theologie ist ebenfalls an Fragen der Wahrheit und Wertigkeit interessiert; dementsprechend fällt es manchen Menschen mitunter schwer, zwischen Theologie und Religionsphilosophie zu unterscheiden. Ein Unterschied findet sich jedoch darin, dass angesichts von Fragen (wie etwa: Ist es möglich, die Existenz Gottes zu beweisen?) die Theologie üblicherweise die Wahrheit und die Werte einer bestimmten religiösen Tradition (typischerweise des Christentums) von vorne herein als gegeben annimmt, wohingegen der philosophische Ansatz erheblich kritischer sein kann und häufig mehrere Traditionen untersucht.
Schaubild: Die Beziehung zwischen Religionswissenschaft, Religionsphilosophie und Theologie:
Bei dem Text handelt es sich um eine Neufassung, die auf der Einleitung einer englischsprachigen, vorläufigen Fassung von Horisont beruht, einem Lehrbuch für den Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe in Dänemark. Das Buch wurde von den Lehrbeauftragten Annika Hvithamar und Tim Jensen sowie von den Gymnasiallehrern Allan Ahle und Lene Niebuhr herausgegeben und ist 2013 im Gyldendal Verlag in Kopenhagen erschienen. Die ursprüngliche Einleitung wurde von Annika Hvithamar und Tim Jensen verfasst und beruht auf dem Beitrag von C. Shaffalitzky de Muckadell.
Religionsphilosophie: Normativität, Glaube und Wissen
Religionsphilosophie kann normativ sein. Dies bedeutet, dass ihr nicht nur daran liegt, zu beschreiben, wie etwas eigentlich ist, sondern es geht auch darum, den möglichen Wahrheitsgehalt und bestimmte Wertvorstellungen zu beurteilen. Kann das Gesetz des Karma unter Umständen wahr sein? Ist rituelles Schlachten moralisch akzeptabel? Ist es möglich, ein sinnstiftendes Leben als Mitglied der katholischen Kirche, oder von Scientology, zu leben?
Ein verbreitetes Thema der klassischen Religionsphilosophie ist dasjenige der Beziehung zwischen Glauben und Wissen. Der dänische Philosoph Søren Kierkegaard (1813-1855) gehört einer philosophischen Tradition an, die die Vorstellung zurückweist, dass es möglich ist, Erkenntnis zu religiösen Wahrheiten auf dem gleichen Wege zu erlangen, wie man Wissen zu historischen Sachverhalten erlangen kann. Ganz im Gegenteil, Kierkegaard war der Ansicht, dass mit zunehmendem gesichertem und objektivem Wissen, das man zu religiösen Themen hat, eben dieses Wissen mehr und mehr dem eigentlichen Aspekt, nämlich dem Glauben, im Wege steht. Er sah im Glauben eine subjektive Herangehensweise, eine Art Lebensanschauung. Daher steht Kierkegaard im Gegensatz zu traditionellen theologischen Ansätzen, die danach streben, auf unterschiedliche Weise die Existenz Gottes zu belegen.
Allerdings wird diese Ansicht nicht von allen geteilt; andere philosophische Gedankensysteme verweisen auf Quellen, von denen angenommen wird, dass sie die Existenz rechtfertigen. Wenn die Naturwissenschaften den Niedergang des Universums theoretisieren, dann beschränken sie sich dabei auf empirische Beobachtungen und Experimente (und die theoretischen Strukturen, die beides zusammenbringen). Aber wie kann religiöses Denken die Vorstellung begründen, dass die Welt untergehen wird? An dieser Stelle scheint es notwendig, zusätzliche Quellen anzuführen und sie zu benutzen, um diese Forderung nachvollziehbar zu machen:
- Traditionen, die den Anspruch erheben, göttlich zu sein: Man kann argumentieren, dass die Erwartung des Weltuntergangs der Tradition nach eher weitergegeben wird (ausgehend von Mythen und heiligen Texten), als dass sie auf menschlichem Denken beruht
- Berichte von Offenbarungen oder Visionen: Man kann argumentieren, dass einige ihr Wissen zum Weltuntergang auf übersinnlichem Wege erlangt haben (beispielsweise durch eine Offenbarung oder Vision).
Für gewöhnlich wird allerdings keine dieser Wissens- und Erkenntnisquellen als verlässlich angesehen. Sollen wir daran glauben, dass morgen die Welt untergeht, nur weil es so in einem alten Mythos behauptet wird, oder weil jemand berichtet, er hätte eine „Vision“ gehabt? Wenn diese Argumentation im Hinblick auf andere Sachverhalte benutzt würde (wie etwa, dass morgen das Dach der Schule einbrechen wird), dann wären wir recht skeptisch. Hinzu kommt außerdem, dass wir um die sich teilweise widersprechenden Mythen und eigentümlichen Vorhersagen verschiedener Traditionen wissen. Daher scheinen Traditionen und Visionen insgesamt wohl nicht zu den verlässlichsten Pfaden der Erkenntnis zu gehören.
Nichtsdestotrotz versuchten Philosophen wie William James (1842-1910) und William Alston (1921-2009) zu argumentieren, dass prinzipiell nichts gegen diese Erkenntnispfade spricht. Sie können mit der Fähigkeit zum Hellsehen verglichen werden. Es mag eher wenig überzeugend erscheinen, zu argumentieren, dass eine alte Frau das Ergebnis des kommenden Spiels eines örtlichen Fußballvereins vorhersagen kann, indem sie in ihre Kristallkugel schaut. Was aber, wenn sich herausstellt, dass sie 30 Mal in Folge richtig liegt mit ihrer Vorhersage? Werden wir nun nicht akzeptieren müssen, dass sie ihr Wissen tatsächlich auf diesem Wege erlangt? Grundsätzlich muss diese Möglichkeit bestehen.
Bei dem Text handelt es sich um eine Neufassung, die auf der Einleitung einer englischsprachigen, vorläufigen Fassung von Horisont beruht, einem Lehrbuch für den Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe in Dänemark. Das Buch wurde von den Lehrbeauftragten Annika Hvithamar und Tim Jensen sowie von den Gymnasiallehrern Allan Ahle und Lene Niebuhr herausgegeben und ist 2013 im Gyldendal Verlag in Kopenhagen erschienen. Die ursprüngliche Einleitung wurde von Annika Hvithamar und Tim Jensen verfasst und beruht auf dem Beitrag von C. Shaffalitzky de Muckadell.