3. Religion in der modernen und postmodernen Gesellschaft
DIE SCHWINDENDE BEDEUTUNG VON RELIGION IN DER MODERNEN GESELLSCHAFT: SÄKULARISIERUNG
Die Religionssoziologie entwickelte sich zeitgleich mit der Industrialisierung der westlichen Welt. Während dieser Zeit veränderten sich die Gesellschaften radikal. Zu diesen Veränderungen gehörte auch der Einflussverlust der traditionellen Religionen Westeuropas. Die frühen Religionssoziologen gingen deshalb davon aus, dass Religion im Laufe der Zeit komplett verschwinden würde. Da die Religionssoziologen sich überwiegend mit der westlichen Welt, insbesondere Europa, beschäftigten, wurde das Christentum zum Bezugspunkt des neuen Begriffs der Säkularisierung. Die frühen Religionssoziologen waren der Ansicht, dass Religion langsam aber sicher an Bedeutung verlieren würde u.a. aus folgenden Gründen: Trennung von Staat und Kirche; Trennung von religiöser und schulischer Erziehung; die Entwicklung hin zur Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft als individuelle Entscheidung.
Aber was bedeutet es eigentlich, wenn man konstatiert, dass es heutzutage „weniger“ Religion gebe? Die Pflege der schwächsten Mitglieder der Gesellschaft etwa obliegt (nicht mehr) der Verantwortung der Kirche, sondern dem Staat. Dies bedeutet, zu Recht, dass die Kirche weniger Einfluss hat und weniger sichtbar ist. Es bedeutet allerdings nicht, dass etwa die Dänische Volkskirche bald nicht mehr existiere oder dass der einzelne Däne an sich nicht mehr religiös sei.
In den heutigen Diskussionen über Säkularisierung betonen Religionssoziologen die Bedeutung der Trennung der unterschiedlichen Ebenen und die Betrachtung von Religion im zeitlichen und räumlichen Kontext. Menschen hören nicht einfach auf religiös zu sein, nur weil Religion kein weitverbreitetes Phänomen mehr ist. Stellt aber Religion keine Gemeinsamkeit der Gesellschaft mehr dar, so erscheint es für die Menschen sinnvoller, ihre Religion alleine oder im Kreise der Familie und Freunde derselben Religion zu praktizieren. Anders ausgedrückt: Religion wird zur Privatangelegenheit. Menschen sind religiös, wenn sie alleine sind, wenn sie mit der Familie oder (religiösen) Freunden zusammen sind, aber nicht in der Arbeit oder in der Politik. Dort wird die Religionszugehörigkeit nicht offen gezeigt. Somit werden religionsbezogene Familienfeiern wie etwa Hochzeiten oder Taufen immer noch zelebriert, der regelmäßige Kirchenbesuch am Sonntag als Ausdruck einer nicht mehr existierenden gemeinsamen Religion hingegen wird unwichtig.
Karel Dobbelaere (*1933) zufolge wird Religion nicht mehr von der gesamten Gemeinschaft geteilt. Er ist der Ansicht, dass Säkularisierung auf verschiedenen Ebenen gemessen werden muss: auf der nationalen, der institutionellen und der individuellen Ebene. Auf einer nationalen Ebene stellt Säkularisierung den Grad des Einflusses von Religion dar, auf die Gesetze beispielsweise oder auf Bildung. Auf der institutionellen Ebene beschreibt Säkularisierung, inwieweit religiöse Institutionen sich an säkulare Vorschriften anpassen, etwa in Diskussionen über Frauenrechte oder dem Scheidungsrecht für Priester. Auf der individuellen Ebene umfasst Säkularisierung die Bedeutung der religiösen Werte, Ideen, Rituale und Erfahrungen für die Individuen. Dobbelaeres behauptet, dass Säkularisierung viele Formen und Stufen annehmen kann. Folglich kann eine Gesellschaft säkularisiert sein, während die Bürger noch immer religiös sind.
In Gesellschaften mit privatisierter Religion stellt die Religionsausübung zu Hause ein Problem für Institutionen wie die nationale Kirche dar, da die Vermittlung der religiösen Botschaft dadurch erschwert wird. Die Kirche konkurriert heutzutage mit dem Fernsehen, Fußballvereinen, politischen Parteien und vielem mehr. Sie ist ein Sinnanbieter neben anderen. Sie reagiert darauf, indem sie jenseits des sonntäglichen Gottesdienstes Angebote offeriert, wie z. B. Abendgottesdienste oder den sog. Pasta-Gottesdienst, der sich speziell an viel beschäftigte Familie richtet. Auch werden die Medien für die Vermittlung der religiösen Botschaft genutzt.
Die Texte basieren auf der englischsprachigen Einleitung zu Horisont, einem Lehrbuch für den Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe in Dänemark. Das Buch wurde von den Lehrbeauftragten Annika Hvithammer und Tim Jensen sowie den Gymnasiallehrern Allan Ahle und Lene Niebuhr herausgegeben und ist 2013 im Gyldendal Verlag in Kopenhagen erschienen. Die Einleitung wurde ursprünglich von Annika Hvithamar und Tim Jensen verfasst.
RELIGION IN DER POSTMODERNEN GESELLSCHAFT: INDIVIDUALISIERTE RELIGION
Aufgrund der Säkularisierung entwickelte sich Religion von einer gemeinsamen Angelegenheit hin zu einer individuellen und privaten Sache. Auch wenn traditionelle Religionen nicht mehr dieselbe Wirkungskraft haben wie früher, sind Menschen dennoch weiterhin religiös. Der Unterschied jedoch ist, dass Menschen jetzt ihre eigenen Entscheidungen darüber treffen, woran sie glauben. Zymunt Bauman (*1925) zufolge ist der postmoderne Mensch permanent zur Wahl seiner Werte und somit auch der Religion gezwungen. Keiner kann ihm dabei sagen, ob er die richtige Entscheidung trifft. Daher sucht er ständig nach besseren Alternativen. Das Ergebnis ist eine persönliche Religion bestehend aus Fragmenten aller Weltreligionen, eine Art Baukastenreligion: Sowohl der Glaube an Jesus (als christliches Element) als auch der Glaube an die Wiedergeburt (als hinduistisches oder buddhistisches Element) können kombiniert werden bei gleichzeitiger Mitgliedschaft in der nationalen, traditionellen Kirche.
Ein weiteres Merkmal postmoderner Religion ist die Fokussierung auf das Individuum anstelle des göttlichen Wesens. Paul Heelas (1946-) ist der Ansicht, dass gottzentrierte Religionen wie das Christentum, der Islam und das Judentum von einer sogenannten Spiritualität ersetzt werden, die das in den individuellen Menschen vorhandene Göttliche in den Mittelpunkt stellt. Diese Art von Religion sollte Paul Heelas zufolge nicht als fragmentiert betrachtet werden. Vielmehr ist sie eine umfassende und stabile Form von Religion mit dem Unterschied, dass sie von Individuen aufgrund der Übereinstimmung mit ihrer Weltanschauung gewählt und zusammengestellt wurde: Eine individuumszentrierte Religion in einer individualistischen Welt. Die religiösen Erfahrungen werden größtenteils nicht wie in traditionellen Religionen in gemeinsamen Ritualen erlebt, sondern in individuell gestalteten religiösen Handlungen wie etwa Meditation und Yoga.
Ein allgemeines Merkmal postmoderner Religion ist auch der charakteristische Aspekt der Erfahrung, d. h. der Schwerpunkt liegt auf dem Erfahren und dem „Fühlen“ von Religion „am eigenen Leib“. Die früheren, dauerhaften religiösen Autoritäten hingegen schwinden und verlieren ihren Einfluss.
Alle Säkularisierungstheorien wurden jedoch wegen ihres Fokus auf das Christentum und die westliche (und westeuropäische) Gesellschaft kritisiert. Bei einer globalen Betrachtung von Religion (und auch beim Betrachten von Religion beispielsweise in den USA) ergibt sich ein anderes Bild. Jose Casanova (1951-) betont, dass beim Betrachten des Großteils der Welt Religion nach wie vor eine noch immer öffentliche und sichtbare Gemeinschaftsangelegenheit ist. Casanova weist außerdem darauf hin, dass religiöse Bewegungen insbesondere in öffentlichen Debatten und in der weltweiten Politik – einschließlich der westlichen Gesellschaften – zunehmend eine aktive Rolle spielen. Dies ist unter anderem auf die Globalisierung zurückzuführen. Die Weltanschauungen und Entwicklungen, die in der westlichen Welt zur Säkularisierung geführt haben, bleiben von dem Einfluss anderer Teile der Welt nicht unberührt. So werden in der internationalen Politik die säkularen Menschenrechte von auf Religion basierenden Weltanschauungen als oberste Instanz infrage gestellt. Dies trifft außerdem auch auf manche, durch Einwanderung geprägte Gesellschaften zu, da die neue Bevölkerungsgruppen andere Vorstellungen über die Rolle der Religion in der Gesellschaft und im privaten Bereich besitzen.
Die Texte basieren auf der englischsprachigen Einleitung zu Horisont, einem Lehrbuch für den Religionsunterricht in der gymnasialen Oberstufe in Dänemark. Das Buch wurde von den Lehrbeauftragten Annika Hvithammer und Tim Jensen sowie den Gymnasiallehrern Allan Ahle und Lene Niebuhr herausgegeben und ist 2013 im Gyldendal Verlag in Kopenhagen erschienen. Die Einleitung wurde ursprünglich von Annika Hvithamar und Tim Jensen verfasst.