9. Islamistische Entwicklungen und neue Richtungen liberaler Denkweisen im heutigen Islam

Einführung
Zwischen den 1950er und 1970er Jahren bekamen die islamischen Reformbewegungen Konkurrenz in Form von neuen Ideologien – dem Sozialismus und dem arabischen Nationalismus. Aber die Enttäuschungen der postkolonialen Gesellschaften und der Islamischen Revolution im Iran (1979) schufen fruchtbare Bedingungen für eine Bekräftigung der muslimischen Identität in ihrer politischen und sozialen Welt durch die moderne salafīyya – also durch Radikalismus und verschiedenste politische Diskurse, die sich insgesamt als „Islamismen“ zusammenfassen lassen. Im Gegensatz zu diesen Bewegungen, die die Rückkehr der „wahren Religion“ bewirken wollen, verteidigten herausragende Intellektuelle aus der muslimischen Geistlichkeit und reformatorischen Aktivistengruppen tapfer den theologischen Liberalismus, nachdem sie die Heiligen Schriften neu interpretiert hatten. Zudem kritisierten sie die islamische „Utopie“ und brachten im Kontext muslimischer Gesellschaften tabuisierte Themen zur Sprache.
Quelle 1

Auszüge aus dem Brief an die Jugend von Hassan al-Banna’ (1939)

ERSTENS: Wir müssen die islamische Persönlichkeit bereinigen: In ihren Gedanken und in ihrem Glauben, in Verhalten und Gefühlen sowie in Handlungen und Umgang. Erst dann ist es unsere persönliche Gestaltung.
ZWEITENS: Wir müssen die islamische Familie fördern: In ihren Gedanken und in ihrem Glauben, in Verhalten und Gefühlen sowie in Handlungen und Umgang. Somit betrifft unsere Arbeit die muslimische Frau, den muslimischen Mann, das muslimische Kind und die muslimische Jugend. Dies ist dann unsere familiäre Gestaltung.
DRITTENS: Wir müssen die islamische Nation fördern, in all den zuvor genannten Charakteristika. Wir müssen also hart arbeiten, uns allen möglichen Instrumenten bedienen, um die folgenden Ziele zu erreichen: Unsere Da’wah* soll ein jedes Heim erreichen, unsere Nachricht überall verbreitet werden. Unser Gedanke soll leicht zu akzeptieren sein, er soll die Dörfer und Weiler, die Städte und Metropolen sowie alle Nationen der Erde erreichen.
VIERTENS: Wir fordern, dass die islamische Regierung die Bevölkerung zur Moschee führt, die Leute zur Führung des Islams weist, so wie es zur Zeit der Sahabah der Rasul Allah [Gefährten von Allahs Boten], wie Abu Bakr und ‘Umar, geschah.
Also: Wir unterwerfen uns keinem Regierungssystem, das die Vorgaben des Islam nicht erfüllt. Wir erkennen kein Regierungssystem an, das seine Regeln und Prinzipien nicht aus dem Islam gewinnt. Wir unterstützen keine derartigen politischen Parteien. Wir erkennen diese traditionellen Systeme, deren Gesetze uns von „Intellektuellen“ und Feinden des Islam auferlegt wurden, nicht an. Wir werden uns für die Wiederkehr der islamischen Lebensweise in ihrer Gesamtheit einsetzen. Unser Ziel ist es, die islamische Regierung auf Basis dieses Systems zu errichten.
FÜNFTENS: Wir wollen jeden Teil der islamischen Nation, der von westlichen Richtlinien verdrängt wurde, wiedererlangen. Also: Wir akzeptieren mitnichten diese politischen Teilungen und internationalen Abkommen, die die islamische Nation in kleine und schwache Ministaaten gerissen hat, die von ihren Angreifern einfach geschluckt werden können. Auch ignorieren wir nicht die Verdrängung und Freiheitsberaubung dieser Nationen. Denn Ägypten, Syrien, der Irak, der Hedschas, der Jemen, Tripolis, Tunesien, Algerien, Marokko sowie jeder Landstrich, den ein Muslim bewohnt, [der bezeugt, dass es außer Allah keinen Gott gibt, der der Anbetung würdig ist] stellt einen wichtigen Teil unseres großartigen Vaterlandes dar, welches wir unter allen Umständen befreien, erretten, entfesseln und vereinigen wollen.
SECHTSENS: Wir wollen die Flagge des Islam hoch über den Ländern wehen lassen, die eine Zeit lang mit dem Islam selbst und den Chören des Mu’azin* mit Takbeer* [d.h. die Äußerung „Allah ist größer.“] und Tahleel* [d.h. die Äußerung „Es gibt neben Allah keine der Anbetung würdige Gottheit.“] in der Luft gefeiert wurden. Dann, als das Unglück über diese Länder hereinbrach, wurde somit entschieden, dass das Licht des Islam erlöschen soll und schließlich, während jeder dieser islamischen Verbünde in Unglauben verfiel, Andalusien sowie Sizilien, der Balkan, Süditalien und die Inseln der Römischen See alle islamische Länder seien, die dem Heimatland des Islam zurückgeführt werden müssten. Das Mittelmeer und das Rote Meer sollten ebenso Teil des islamischen Reiches seien, wie sie es zuvor waren.
SCHLIEßLICH: Wir wollen: Mit unserer Da’wa die ganze Welt erreichen. Sie allen Nationen propagieren. Sie bis an die abgelegensten Orte der Erde bringen, um dort einen jeden unrechtmäßigen Herrscher ihrer Befehlskraft zu unterwerfen [, bis es kein Beschwernis mehr gibt und Allahs Glaube über alles regiert] [Und an diesem Tag werden die Glauben im Sieg durch Allah vereint. Er gewährt den Sieg jedem, den er für würdig hält. Er ist der Allmächtige und der Barmherzige.] (Koran 30, 4 – 5).
*Da'wa: Berufung in den Islam, um den “wahren” Islam zu finden,
*Mu’azin: Ausrufer zum Gebet.
*Takbīr: Abgeleitet vom Wort für “groß”, aus der verbreiteten Phrase „Gott ist der Größte”.
*Tahlīl : Wort aus dem Satz „Es gibt keinen außer Gott”.


Auszug aus: Die Gesammelten Werke des Imam Hasan al-Banna (9). Beirut, 1984. In deutscher Über-setzung von Patrick Eger.


Hassan al-Bannā' (1906-1949) war ein ägyptischer Lehrer der im Jahr 1928 die Muslim-Bruderschaft als „erste fundamentalistisch-moderne Bewegung des Islam“ gründete. Das formulierte Konzept der „Brüder“ drückte spirituelle Einigkeit und die Loyalität ihrer Anhänger aus. Diese Rede hörten die Brüder während ihres fünften Kongresses im Jahr 1939, später wurde sie als Flugschrift veröffentlicht.
Al-Bannā' wurde zum Anführer einer starken, strukturierten und hierarchischen Organisation. Die Brüder predigten in Moscheen, Cafés, auf dem Land und in der Stadt. Al-Bannā' führte ein Tagebuch, schrieb viele Briefe an seine Anhänger und hielt tausende von Vorlesungen. Die Bruderschaft wurde neben der Wafd, der liberal-weltlichen und nationalistischen ägyptischen Partei,zu einer echten Massenbewegung.
Die weder intellektuelle noch elitäre Gesellschaft für Muslimische Bruderschaft rekrutierte ihre Mitglieder hauptsächlich in der unteren Mittelschicht. Die Ideologie von al-Bannā' war in vielerlei Hinsicht reformatorisch. Sie griff Gedanken aus der Zeitschrift von al-Manār [siehe Islam I, Seite 8] auf, die die Solidarität innerhalb des Islam, den Einklang mit der modernen Welt und die Notwendigkeit von Exegese und (Re-)Interpretation für das Erreichen der ursprünglichen Botschaft des Islam betrafen. Die Muslimbrüder waren auch sehr wohl verwickelt in die Auseinandersetzungen gegen die Vormacht Großbritanniens, entwickelten aber keine bestimmte politische Agenda. Dies sind zwei Kernideen des “Aufrufs” an die jungen Leute aus dem vorliegenden Auszug:
- Die islamische Identität ist komplex und betrifft verschiedene Ebenen.
- Die Islamisierung beginnt mit der Einzelperson und wird so Schritt für Schritt zur „finalen Islamisierung“.

Quelle 2

Auszüge aus den “Prinzipien des indonesischen Forums des liberalen Islam”

Offen für alle Formen der intellektuellen Erkundung in allen Dimensionen des Islam. (…) Das Schließen der Türen für Interpretationen des Islam, teilweise oder ganz, ist eine Bedrohung für den Islam selbst, weil er auf diese Weise verrotten wird. Liberale Muslime glauben, dass kritisches Denken aus vielen Perspektiven geschehen kann, insbesondere aus denen, die mit sozialer Interaktion, Ritualen und Theologien zu tun haben.
Liberale Muslime glauben, dass wörtliche Lesarten des Koran und der Sunna den Islam nur verkrüppeln würden. Im Gegensatz dazu erlaubt es eine eher religiös-ethische Interpretation dem Islam, kreativ aufzublühen und Teil der Weltbürgerschaft zu werden (…).
Liberale Muslime glauben, dass der Gedanke der Wahrheit (in der Interpretation von Religion) relativ ist, da menschengemachte Interpretationen stets unter bestimmten Bedingungen und in gewissen Kontexten entstehen; er ist auch offen hinsichtlich der Frage, ob die Interpretationen wahr oder falsch sind; er ist insofern vielfältig, als dass er stets den Bedarf der Ausleger widerspiegelt, der abhängig ist von Zeit und Ort. (…)
Liberale Muslime glauben, dass religiöse und staatliche Autoritäten getrennt werden müssen. Liberale Muslime lehnen das Konzept der Theokratie ab. Religionen sind Quellen der Inspiration, die öffentliche Politik beeinflussen können, aber sie sollten nicht zu heiligen Vorgaben werden, die den Politikmachenden Narrenfreiheit gewähren. Religion sollte in privater Hand bleiben, während öffentliche Belange in gemeinsamer Entscheidungsfindung behandelt werden sollten.

Auszug aus: Die Prinzipien des Indonesischen Forums für Liberale Muslime, von Jarigan Islam Liberal (JIL). In deutscher Übersetzung von Patrick Eger.


Indonesien ist mit 87% der 230 Millionen Einwohner (Stand 2007) das größte muslimische Land der Welt. Dort fand die Islamisierung Schritt für Schritt statt. Sie begann mit der Ankunft von Handelsschiffen und fremden Predigern, der Islam wurde aber erst im 17. Jahrhundert  wirklich in der gesamten Gesellschaft verbreitet. Zu dieser Zeit entstanden auch die ersten Reformbewegungen. Heute existieren mehrere Ausprägungen der Religion nebeneinander, so zum Beispiel der mystische, dogmatische und rituelle Islam. 1945 übernahm der Staat die Doktrin der Fünf Prinzipien (Pancasila), welche im ersten Artikel den Glauben an den einen Gott formuliert.
Das JIL (Jarigan Islam Liberal) ist ein Diskussionsforum (http://www.islamlib.com), das 2001 online ging. Ziel war es, einen toleranten und liberalen Diskurs in der indonesischen Gesellschaft zu verbreiten, um den islamistischen Tendenzen entgegenzuwirken. Das Netwerk des JIL vereinigt mehr als 1000 intellektuelle, religiöse und weltliche Mitglieder, von denen nur wenige außerhalb Indonesiens studierten und forschten. Der verantwortliche Koordinator ist Ulil Abshar Abdallah.
Die behandelten Themen befassen sich mit der Kultur des liberalen Islam: Status von Frauen, Dialog und Heirat zwischen den Religionen, Kampf gegen Polygamie, Demokratie, Gedankenfreiheit, Kritik an der sharī'a etc.
Die Arbeit des JIL wurde seitens der Nahdlatul Ulama, einer einflussreichen konservativen Massenorganisation, die unter dem Vorwurf der Apostase einige gesammelte fatwas gegen die JIL hervorbrachte, stark angefeindet.
1998 begann Indonesien nach der Suharto-Ära (1967-1998) einen demokratischen Wandel, der von einer Entpolitisierung der Gesellschaft und einer stärker werdenden Missionierungsbewegung des Djamā'at al-tablīgh geprägt war. Gleichwohl sorgte das unter Suharto modernisierte indonesische Bildungssystem für die Entwicklung einer neuen Generation Intellektueller und den Gewinn ausländischer Sponsoren, die es indonesischen Studenten ermöglichten, im Ausland zu studieren.

Quelle 3

Intellektuelle Defizite und neue Ideologien im heutigen Islam

Das Fehlen jeglicher theologischer, ethischer und rechtlicher Vernunft wird beinahe nie von denen erwähnt, die so selbstbewusst über das “Erwachen des Islam”, die „islamische Revolution“, die „Rückkehr zur Religion“, den „islamischen Fundamentalismus“ o. Ä. sprechen. Die Verengung des intellektuellen Feldes im zeitgenössischen islamischen Denken geht einher mit der ideologischen Expansion, die dem Islam neue Funktionen zuweist, die anti-religiöser oder gar anti-spiritueller Natur sind:
Der Islam ist ein Refugium für die Identität der ethno-kulturellen Gesellschaften und Gruppen, die durch die materialistische Zivilisation in Einheit mit der intellektuellen Moderne aus ihren traditionellen Strukturen und Wertvorstellungen gerissen wurden. Er ist also ein Verschlag für alle Formen des sozialen Lebens, die sich selbst außerhalb der Orte religiöser Immunität – wie der Moschee – nicht auszudrücken wissen; er ist schließlich eine Sprungfeder für all die, die Macht ergreifen wollen (…).

Mohammed Arkoun, ABC de l'Islam. Pour sortir des clôtures dogmatiques, Paris, Michel Grancher, 2007, S. 180. Ins Englische übersetzt von Marie Lebert. In deutscher Übersetzung von Patrick Eger.


Mohammed Arkoun (1928 – 2010) war ein algerischer Akademiker, der sich auf die Geschichte islamischen Gedankenguts spezialisierte. Sein Hauptforschungsgebiet war die Betrachtung der „islamischen Vernunft“. Die Tradition proklamierte seit jeher die Anwendung von Vernunft im Einklang mit der „Offenbarung“, nach der die Vernunft von göttlichem Ursprung und Gottes Gabe an die Menschheit war. Auf Basis dieses Konzepts entstand ab dem 9. Jahrhundert ein postprophetischer Korpus an Fachliteratur.
Mohammed Arkoun setzte sich für eine umfassende Neuinterpretation religiöser und rechtlicher Quellen des Islam ein, indem er sie mit neuen Themen und sozialwissenschaftlichen Instrumenten (Semiologie, Sprachwissenschaft etc.) konfrontierte. Sein Ziel war es, der „fundamentalen Orthodoxie“ Einhalt zu gebieten, die die Quellen zu ihrem Vorteil auslegte und deklarierte, den „einzig wahren“ Islam zu repräsentieren, obwohl sie lediglich eine „eingefrorene“ Version darstellte.