4. Die heiligen Schriften des Islam: Der Koran und die Hadith

Einführung
In den ersten Jahrhunderten nach dem Tod Mohammeds erhielt der Islam seine Heilige Schrift und entwickelte seine Glaubenslehre. Dieser immensen Aufgabe nahmen sich Muslime, Biographen, Histo-riker, Exegeten und Traditionalisten an. Sie hatten damit ihren Anteil an der Ausbildung einer neuen Religion, die Teil der Menschheitsgeschichte ist. Der Koran (al-qurʾān) ist die Primärquelle und der Grundstein des Islam. Das koranische Korpus enthält 114 Einheiten, die Suren genannt werden. Diese beinhalten wiederum tausende von Leseeinheiten (Verse) mit einer großen inhaltlichen Streuweite. Als zweite wichtige Zusammenstellung von Quellen gilt der Hadith, der eine monumentale Anzahl einzel-ner Hadithe beinhaltet. Der Begriff Hadith bezieht sich auf die mündliche Überlieferung gesprochener Worte, Entscheidungen und Handlungen, die dem Propheten Mohammed zugeschrieben werden. Wie bildeten sich diese Korpora aus? Welche Rolle spielten sie bei der Entstehung der Religions- und Rechtswissenschaften?
Quelle 1

Die Fātiha

Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen.
(Alles) Lob gehört Allah, dem Herrn der Welten,
dem Allerbarmer, dem Barmherzigen,
dem Herrscher am Tag des Gerichts.
Dir allein dienen wir, und zu Dir allein flehen wir um Hilfe.
Leite uns den geraden Weg,
den Weg derjenigen, denen Du Gunst erwiesen hast, nicht derjenigen, die (Deinen) Zorn erregt haben, und nicht der Irregehenden!

Quran, Sure 1 al-Fatiha (Die Eröffnende). Übersetzt von: Abdullah As-Samit (F. Bubenheim) und Nadeem Elyas. Empfohlene Quellenangabe: Mit Allahs Hilfe ist diese Auflage des Qur'an mit der Übersetzung seiner Bedeutungen vom König-Fahd-Komplex zum Druck vom Qur'an in al-Madina al-Munauwara unter Aufsicht des Ministeriums für Islamische Angelegenheiten, Stiftungen, Da-Wa und Rechtweisung im Königreich Saudi-Arabien herausgegeben worden. 1424 n.H./2003 n.Chr. (2. Auflage). Online abrufbar unter URL: www.islam.de (23.04.2015).

Diese kurze, sieben Verse umfassende Sure, deren Name zumeist als „Die Eröffnung“ übersetzt wird, ist die erste im Korpus des Koran. In der islamischen Tradition wurden ihr allerdings auch andere Namen gegeben, so z. B. „Die Mutter des Koran“ oder „Die Huldigung“. Im Gegensatz zu anderen Suren ist es nicht Gott, der hier zu den Gläubigen spricht, sondern die Gläubigen selbst („Wir“), die ein Gebet an Gott (Allāh) richten. Die Fātiha ist sehr beliebt und wird zu vielen Anlässen (Hochzeit, Trauer etc.) auf Arabisch aufgesagt, insbesondere am Anfang aller Schritte des rituellen Gebets.
Folgt man der Annahme, dass der Koran aus bereits bestehenden Suren zusammengefügt wurde, scheint es plausibel, dass dieser Text, der eine bestimmte liturgisch-religiöse Rahmung liefert, als Gebet vor den eigentlichen heiligen Text positioniert wurde. Altertümliche exegetische Werke boten alternative Versionen dieser Sure an. Die Fātiha fasst die wichtigsten Punkte der prophetischen Nach-richt zusammen - Glaube an Gott, dessen Güte und das Jüngste Gericht – nimmt aber keinerlei Bezug auf die Mission Mohammeds. Diese Sure ermahnt die Menschheit, dem rechten Pfad zu folgen und gute Werke zu verrichten. Aber wer sind die Abtrünnigen, die erwähnt werden? Gelehrten zu Folge könnten dies die Juden oder Christen sein.

Quelle 2

Die “Opferung” des Sohnes Abrahams


Gott befahl ihm [Abraham], seinen Sohn zu opfern. Doch die Überlieferungen sind sich uneins, ob es Ishmael oder Isaak war. […] Zu beiden Söhnen gibt es sie reichlich und man ist sich uneinig. Am Morgen ging Abraham nach Minā*.
„Zeige mir das heilige Haus“, sagte das Kind.
Abraham antwortete seinem Sohn: „Gott befahl mir, dich zu opfern.“
„Oh Vater“, sprach das Kind, „tu, was dir aufgetragen wurde!“
Abraham nahm das Messer, setzte das Kind auf einen Felsen am Berg, legte den Sattel eines Esels unter es und setzte das Messer an die Kehle des Jungen, seinen Blick abwendend. Gabriel aber drehte das Messer um. Abraham sah wieder hin und bemerkte, dass das Messer umgedreht war. Dasselbe wiederholte er drei Mal; dann hörte er eine Stimme rufen: „Oh Abraham! Du hast deiner Vision Glauben geschenkt.“ Gabriel nahm das Kind an sich. Ein Widder lief den Hügel von Thabīr herab, diesen griff er unter sich und opferte ihn.
Die Schriftgelehrten sagen, das Kind sei Isaak gewesen und die Geschichte habe sich in der Wüste der Amoriten* in der Region Shām* zugetragen.

* Minā: Der Ort nahe Mekka, wo Abraham seinen Sohn opfern sollte und heute Pilger eines der Pilgerrituale (fünfter Pfeiler des Islam) vollführen.
* Amoriten: Antikes semitisches Volk, welches in der Bibel erwähnt wurde (Josua 24, 15).
* Shām: Geographischer Terminus aus der klassischen arabisch-muslimischen Literatur, der sich auf den Orient (insbesondere Syrien) bezieht.




Al-Ya’qūbī, L’Histoire des prophètes, d'Adam à Jésus, trad. A. Ferré, coll. Études arabes, n° 96, Roma, Pontificio Istituto di Studi Arabi i Islamistica, 2000, S. 29 – 30. Ins Englische übersetzt von Marie Lebert. Ins Deutsche übersetzt von Patrick Eger.

Der Koran ist reich an Momenten, die von den biblischen Geschichten um Abraham inspiriert wurden. Dessen Figur ist von so großer Wichtigkeit, dass die muslimische Tradition Mohammeds Abstammung direkt auf Abraham zurückführt, insbesondere weil er den idealen Muslim verkörpert. Abraham, der „Freund Gottes“ ist keineswegs ein Muslim, der den Ritualen oder der Doktrin von Theologen oder Rechtsgelehrten folgt. Vielmehr ist er ein „vorgeschichtlicher“ Muslim´, da er sein Leben voll und ganz in Gottes Hände legte und bereit war, ihm seinen Sohn zu opfern. Im Koran (37, 102 – 105) bleibt der Name des Sohnes, der Gott als Opfer dargebracht werden soll, unerwähnt; die Überlieferung ordnet ihm Ismā'īl, den Sohn von Abrahams Geliebter Hāgar, zu. Angesichts der „Auslassung“ des Kindesnamens im Koran beriefen sich einige Exegeten auf die Isra'iliyāt (biblische oder zweifelhafte Überlieferungen und Legenden) und entschieden sich für Isaak. So zum Beispiel die Ausleger al-Tabarī und al-Razī. Diesbezüglich studierte al-Ya'qūbī, der im 9. Jahrhundert lebte und Anhänger des Schiismus war, einige biblische und apokryphe Geschichten und berichtete in seiner Weltgeschichte von verschiedenen Überlieferungen bezüglich der Identität des Sohnes Abrahams. Damals gab es noch keine allgemein akzeptierte Auslegung. Ab dem 12. Jahrhundert wurde die Interpretation mit Ismā'īl, dem “arabischen“ Sohn, dem „Ausgeschlossenen“, gemeinhin anerkannt.

Quelle 3

Eine zeitgenössische Lesart des Korans

[...] die Richtung der neuen Ära, die Richtung der Muslime auf Erden, wird verfolgt von den Prinzipien – den mekkanischen Versen – eben die, die in der antiken Zeit durch die ergänzenden Verse – nämlich die medinischen – außer Kraft gesetzt wurden; ein Prozess, der nur wegen dem Wandel der Zeiten gemacht wurde… Die Verse der Prinzipien waren an eine muslimische Gemeinschaft gerichtet, die damals noch gar nicht existierte… […] sie verwiesen auf später und ihre Rolle in der Gesellschaft war im Gesetz nur schwach verankert, bis ihre Zeit kam…

[...] Dies ist die Bedeutung des Urteils der Zeit. Für die Gläubigen des 7. Jahrhunderts gab es die Verse der Ergänzung; für die Gläubigen des 20. Jahrhunderts waren es die Verse der Prinzipien. Darin lag die ganze Weisheit hinter der Idee des Außerkraftsetzens: Der Prozess ist keine Abschaffung, sondern eher eine Aufschiebung, die ihre Zeit erwartet.

Auszug aus dem Vorwort von Mahmūd Muhammad Tāhā zu La Seconde mission de l’Islam (Die zweite Mission des Islam), 4. Aufl., 1971. Ins Englische übersetzt von Marie Lebert. Ins Deutsche übersetzt von Patrick Eger.

Dieser Textausschnitt stammt aus dem Buch Die Zweite Nachricht des Islam des sudanesischen Autors Mahmūd Muhammad Tahā (Syracuse University Press, New York, 1987), der zwischen zwei verschie-denen Verkörperungen und Nachrichten des Korans unterscheidet.
Die erste Nachricht – die Nachricht von Medina – spielt vor der Hijra (Auswanderung Mohammeds) in Yathrib und wurde an die Bedürfnisse der ersten arabisch-muslimischen Gemeinde bzw. deren Stam-mesorganisation im 7. Jahrhundert angepasst. Sie lieferte wertvolle Anweisungen bezüglich der Sharī'a (insbesondere den Jihād betreffend), Polygamie, der Verschleierung, dem Ausschluss Abtrünniger etc. Der Kern der Nachricht – die „Quellenbotschaft“ – kam allerdings durch die Suren von Mekka, die der Autor die „Verse der Prinzipien“ nennt. Tahā verweist auf die Notwendigkeit, zeitlich zurückzugehen, vom mekkanischen zum medinischen Koran, um den zeitweise außer Kraft gesetzten „Primärkoran“ zu finden, der die Bestimmung und „zweite Botschaft“ des Islam definiert: Die Überbringung des „wahrhaften“ Islams an die Menschheit.
Mahmūd Muhammad Tahā entleiht den Gedanken der zeitweise aberkannten Gültigkeit von muslimi-schen Exegeten und legt ihn gleichermaßen neu aus. Für diese Theologen und Rechtsgelehrten war die Lösung bei Unstimmigkeiten und Widersprüchen im Koran stets klar: Die ältesten betroffenen Verse wurden durch die jüngsten der 23-jährigen Chronologie der Offenbarung ersetzt. Für den hier zitierten Autor war die Außerkraftsetzung ein die beiden Teile des Korans und die Phasen der Offenbarung verbindender Prozess. Die Verse des medinischen Korans wurden durch die in Mekka offenbarten ersetzt.

Quelle 4

Ein Hadith über den Fastenmonat Ramadan

Abu Huraira*, Allahs Wohlgefallen auf ihm, berichtete, dass der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, sagte: „Wer immer - aus dem Glauben heraus und der Hoffnung auf den Lohn Allahs - im Ramadan fastet, dem werden seine vergangenen Sünden vergeben. Und wer immer - aus dem Glauben heraus und aus der Hoffnung auf den Lohn Allahs - Lailatu-l-qadr * im Beten verbringt, dem werden seine vergangenen Sünden vergeben.“ (* ist die Nacht, in der die Offenbarung des Qur`an im Monat Ramadan mit den ersten fünf Versen der 96 Sura begann)

* Abu Hurairah: Gefährte des Propheten, der für die Überlieferung prophetischer Tradition bekannt ist; darunter 446 von al-Bukhārī ausgewählte Traditionen.

Al-Bukhâri Kapitel 30: Die Vorzüge der Lailatu-l-Qadr (Nacht der Macht), aus dem Arabischen übertragen und kommentiert von Abu-r-Rida’ Muhammad Ibn Ahmad Ibn Rassoul (Sahih Al-Bucharyy Nr. 2014).

„Im Namen Allahs,
des Allerbarmers, des Barmherzigen
Wir haben ihn ja in der Nacht der Bestimmung hinabgesandt.
Und was läßt dich wissen, was die Nacht der Bestimmung ist?
Die Nacht der Bestimmung ist besser als tausend Monate.
Es kommen die Engel und der Geist in ihr mit der Erlaubnis ihres Herrn mit jeder Angelegenheit herab.
Frieden ist sie bis zum Anbruch der Morgendämmerung.”
(Quran 97, al-Qadr (Die Bestimmung). Übersetzt von: Abdullah As-Samit (F. Bubenheim) und Nadeem Elyas. Empfohlene Quellenangabe: Mit Allahs Hilfe ist diese Auflage des Qur'an mit der Übersetzung seiner Bedeutungen vom König-Fahd-Komplex zum Druck vom Qur'an in al-Madina al-Munauwara unter Aufsicht des Ministeriums für Islamische Angelegenheiten, Stiftungen, Da-Wa und Rechtweisung im Königreich Saudi-Arabien herausgegeben worden. 1424 n.H./2003 n.Chr. (2. Auflage). Online abrufbar unter URL: www.islam.de (23.04.2015). )
Ramadān ist der neunte Monat des muslimischen Kalenders. Der Begriff wird allgemein in Bezug auf das Fasten, einer der Pfeiler des Islams, verwendet. Am Ende dieses Fastenmonats feiern die Muslime die „Nacht der Bestimmung“ (Laylat al-Qadr). Der englische Terminus „Night of Power“ wurde von westlichen Orientalisten geprägt, die das arabische Wort qadr („Maß“, „Wert“) mit dem Wort qadar („Schicksal“) verwechselten. Der Überlieferung nach wurde dem Prophetenherz die erste Offenbarung durch den Boten Gabriel in einer Nacht des Ramadān übermittelt. Diese Nacht gilt als gesegnet.