6. Von der Sunnah zum Sunnismus

Einführung
Der Sunnismus – der „mittlere Weg“ – entstand als das „richtige Gleichgewicht“ unter den abgespalte-nen Bewegungen (Charidschiten, Schiiten etc.), aber auch als Alternative zu theologischen und rechtlichen Doktrinen, die als Abweichungen von der Überlieferung und damit als Quell der Uneinigkeit unter den Muslimen galten. Der Sunnismus sah sich selbst als einzige Denkweise, die den Zusammenhalt der Gemeinschaft bewahren könne und wurde zur bedeutendsten Strömung im Islam. Der Begriff selbst ist ein westlicher Neologismus auf Basis des arabischen Wortes sunnah, welches sich im Arabisch der Stämme der Halbinsel auf den Pfad bezog, der einen in der Wüste auf den richtigen Weg leitete. Auch die Überlieferungen der Ältesten an den Rest ihres Stammes wurden damit bezeichnet. Im Koran bezieht sich der Begriff auf das Gesetz nach Allāh (sunnat Allāh) und die Art und Weise, sich danach zu richten. In welchem Kontext – und gegen wen – entstand die sunnitische Tradition? Wie steht es um die Haltung gegenüber den wichtigsten theologischen und politischen Themen zur Entstehungszeit des Islam – Leben gemäß der Sunnah, Gottes Herkunft, die Legitimität von Herrschern?
Quelle 1


Die Shahāda

Es gibt keinen Gott außer Allah und Mohammed ist sein Prophet.*

*Dies ist die gängige Übersetzung aus dem Arabischen. Eine wortgetreue lautet wie folgt: „Es gibt keinen Gott außer Gott. Mohammed ist der Gesandte Gottes.“




Die Rolle der Shahāda im Glauben nach Sharastānī

Es ist wahr, dass der Prophet nicht mit dem bloßen Aufsagen der Schahāda, dem keine innere Überzeugung zugrunde liegt, zufrieden war. Jedoch zwang er den Menschen die Aufgabe nicht auf, Gott so zu verstehen, wie er wahrhaftig ist, da dies offensichtlich etwas ist, das nicht alle Menschen zu leisten vermögen.

Sharastānī (1086-1153), Persian philosopher and theologian. Quoted by T. Izutsu in: The Concept of Belief in Islamic Theology, Tokyo, 1965, S. 180. In deutscher Übersetzung von Felix Petzold.

Das formale Glaubensbekenntnis wird seit jeher auf Arabisch aufgesagt, wie es der erste der fünf Glaubenspfeiler von jedem Muslim verlangt. Es basiert auf der Sure 112 des Koran: „Sprich, ‚Er ist Allah, der Eine, Allah, der ewige Hort; weder zeugt er, noch ward er geboren; nichts und niemand ist Ihm gleich.‘“  Diese Behauptung bedeutete eine entschiedene Distanzierung gegenüber dem Polytheismus und der christlichen Theologie der Dreifaltigkeit. Das Zeugnis bildete den Rahmen für die „Wahre Religion“ und das wichtigste Dogma des Islam.
Dieses Glaubensbekenntnis war ein zweiseitiges, insofern als es öffentlich zwei Glaubensmotive deklariert: Den Glauben an den einen Gott und den Glauben an seinen Boten Mohammed. Der geschichtliche Hintergrund des Bekenntnisses ist noch immer schlecht erforscht, sowohl was die religiöse Formulierung als auch die Segnung durch die Überlieferung betrifft. Die meisten der ältesten Schahādas, die sich in den Territorien der ersten islamischen Expansion von Arabien bis nach Syrien gemeißelt finden, beinhalten nur den ersten Teil des Bekenntnisses, anders als die traditionelle Schahāda: Sie erwähnten die Mission Mohammeds nicht.
Die Schiiten teilten sich grundsätzlich die Schahāda mit den Sunniten, aber einige Vertreter der Zwölfer [siehe Islam I, Seite 5] fügten hinzu:“’Alī ist der Statthalter Gottes."
Die Schahāda bekräftigte die Einigkeit Gottes (tauhīd), welche zwischen dem achten und zwölften Jahrhundert einer der theologischen Hauptstreitpunkte war. Sie widersprach insbesondere den „Argumentierenden“ der Gelehrten gegen die Dialektik, die ihre logische Strenge ablehnten und sich lieber nur auf die Heiligen Schriften selber bezogen. Das Motiv des tauhīd war die Quelle religiöser und politischer Spaltungen – hierbei insbesondere die Frage nach Gottes unsterblichen und aber auch nach seinen „physiologischen“ Attributen (die „Hand“ Gottes, das „Antlitz“ Gottes etc.).
Shahrastānī war ein persischer Philosoph, der an der berühmten Nizamiyyā in Bagdad lehrte. Er unterschied zwischen Laien und der Elite, die alleinig Weisheit erlangen könne. Als Theologe und Historiker spezialisiert auf „Sekten“ und religiöse Doktrinen war er in die von religiösen Rechtsgelehrten befeuerten Kontroversen um die Position der Schahāda im islamischen Glauben verwickelt. Reicht sie aus, um seinen Glauben zu bezeugen, wie es Ibn Karrām im neunten Jahrhundert gelehrt hatte? Oder musste sie mit theologischen Schriften gestützt werden? In der Mitte beider extremen Denkweisen – von Kritikern manchmal „abscheuliche Neuerungen“ genannt – definieren Sunniten den Glauben (Īmān) durch drei Komponenten: Weisheit des Herzens (tasdīq), Bestätigung durch Sprache (Iqrār) und theologisches Werk ('amal).
Von den weltweit 196 Ländern wählten 64 religiöse Symbole als Teil ihrer Nationalflaggen (Sterne, Halbmond etc.), darunter auch 21 muslimische Länder. Saudi-Arabien, Afghanistan und die Republik Somaliland platzierten gar die Schahāda auf ihrer Flagge. Radikal islamistische Organisationen (Hamas, sunnitische Jihadisten etc.) taten es ihnen gleich und setzten das Bekenntnis auf ihre schwarze Flagge, die „Flagge des Tauhīd“.

Quelle 2

Die Gründung der Madrasa in Kairo unter Saladin als Inschrift (1180)

Die Schule wurde auf Veranlassung des Scheichs, islamischen Rechtsgelehrten (Faqīh), Imams, asketischen Najm al-Dīn und Musterbeispiels der Menschheit Abul Barakat al-Khabushani gebaut…zugunsten der Faqīh-Anhänger von al-Shāfî'ī, die sich im Gegensatz zu anderen nutzlosen Neuerern und Abtrünningen durch ihr festes, lehrmäßiges Fundament auszeichnen.

Quoted by André Raymond in: Cairo, Harvard University Press, Cambridge, Massachusetts, 2000, p. 103. In deutscher Übersetzung von Felix Petzold.

Die Inschrift auf der al-Nasiriyah madrasa (datiert auf 1180) wird im Islammuseum in Kairo aufbewahrt. Sultan Saladin wurde in ihr nicht erwähnt, obwohl sie unter der Aufsicht von al-Khabushani gegründet wurde, einem hohen Geistlichen, den Saladin sehr respektierte. Gleichzeitig wurde er von seinen Gegnern aber auch als sehr stur beschrieben.  Al-Khabushani bekämpfte vehement die Rechtsgelehrten von Hanbali, die er verachtete, ebenso wie die „argumentierenden“ Theologen (Mu'taziliten) und all die „Neuerungen“, die in seinen Augen schädlich für die muslimische Einigkeit waren. 
Eine madrasa ist eine Art Hochschule für das Studium der Religion. Die Inschrift verurteilt eindeutig „abtrünnige“ Lehren und „Neuerungen“. Diese madrasa wurde neben dem berühmten Schrein von al-Shāfi'ī [siehe Islam II, Seite 4] errichtet, einem Zentrum weit verbreiteter und tiefer Verehrung bis zum heutigen Tag. In seinen frühen Jahren sah sich der Sunnismus mit blutigen inneren Konflikten zwischen rechtlichen Schulen in Kairo und Bagdad konfrontiert. Von Saladin gegründet, errichtete die Dynastie der Ayyūbiden (1171-1250) zahlreiche madrasas in großen Städten von Syrien bis nach Ägypten.
Der Wortlaut dieser Inschrift bezog sich auf die größten Widersacher der sunnitischen Tradition. Die „Argumentierenden“ waren Mu'taziliten, also Theologen, deren Lehre auf logischen Argumenten basierte, die das Recht auf Widerstand und Revolution anerkannten und die behaupteten, dass das Wort Gottes nicht einfach nur erschaffen wurde, sondern auch zu einer bestimmten Zeit und in einem gewissen Kontext hervorgebracht wurde. Diese Ideen wurden von den theologischen Anhängern der Sunnah entschieden abgelehnt, ebenso wie die darauffolgenden „Neuerungen“, die den einzig wahren zu folgenden Weg verzerren würden – den Weg, der bereits den Konsens der Gemeinde gefunden hatte.