7. Die Rechtslehre im Islam, von den großen Rechtsschulen (8. – 10. Jh.) bis heute
In jeder Gesellschaft spielt die Gesetzgebung eine tragende Rolle, insbesondere auch wegen ihres politischen Einflusses. Im umfassenden Kontext der islamischen Expansion war es die Aufgabe der Rechtslehre, die Rechtspraktiken verschiedenster Bevölkerungsgruppen – Stämme aus Arabien, Ira-ner, Berber, Indonesier, Malaysier etc. – an islamische Normen anzupassen. Um dies zu erreichen, hatten die muslimischen Rechtsgelehrten in den ersten Jahrhunderten lediglich einige koranische Vor-schriften, die sich auf ein enges Feld von religiösen, bürgerlichen (Heirat, Erbe etc.) und strafrechtli-chen Praktiken beschränkten. Wie sollte also der Koran und die prophetische Überlieferung auf rechtliche Fragen angewandt werden? Wie kann von den ersten islamisierten Gesellschaften bis in die Moderne das im grundlegenden Text Fehlende mit Antworten auf spezifische Streitfragen ergänzt werden – während die allgegenwärtige Norm der sharī'a eingehalten wird?
Übersichtskarte der großen Rechtsschulen
Wikimedia Commons
Lizenzfrei nach : http://creativecommons.org/publicdomain/zero/1.0/deed.en
abrufbar unter : http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Madhhab_Map2_vectorized.svg (Zugriff am 5.1.15)
In den meisten islamischen Staaten hat sich keine klar führende rechtstheoretische Schule durchgesetzt. Der Malikismus ist die größte Schule im Maghreb und südlich der Sahara. Er geht zurück auf Mālik ibn Anas, einen Rechtsgelehrten aus Medina des achten Jahrhunderts. Seine Lehre wurde zusammengestellt und herausgegeben unter dem Titel Muwattā' (in westlicher Übersetzung so viel wie ‚Der oft betretene Pfad‘). Diese erste bedeutende Sammlung islamischer Rechtslehre wurde zum grundlegenden Handwerkszeug Gelehrter, die sie auch ausgiebig kommentierten. Sie beinhaltete einen Korpus an Hadithen und allgemeingültigen rechtlichen Praktiken, die in der „Stadt des Propheten“ die Norm waren, und fungierte als Antwort auf die Stille des Korans und der Sunna, was dieses Thema betrifft.
Die Lehre des Shafi'ī wurde in Malaysia, Indonesien und Ostafrika verbreitet, während in Zentralasien, Indien, der Türkei und in Pakistan eher der Hanafismus gelehrt wurde. Letztlich war Al-Shāfi'ī (gestorben 820) jedoch einer der größten sunnitischen Rechtsgelehrten. Er lehrte und verfasste seine Werke in Ägypten. Für ihn galt die absolute Autorität des Koran und der Sunnah mehr als die spirituelle Autorität der ulamā’s. Er bevorzugte Analogien (qiyās) vor den Meinungen höherer autoritärer Instanzen.
In einigen Ländern wurde nur eine einzige Schule akzeptiert, so zum Beispiel der Malikismus in Marokko. In Saudi-Arabien ordnete sich die – seit Mitte des 18. Jahrhunderts von den ulamā's eingeführte - wahhabitische Richtung des Sunnismus der hanbalitischen Rechtslehre zu. Diese war damals die neuste sunnitische Rechtsschule (die erste wurde im zehnten Jahrhundert gegründet) und vertrat eine Minderheit in anderen islamischen Ländern. Ihr ideologischer Begründer, der 855 verstorbene Ibn Hanbal, war für seine Hadithensammlung und theologische Standpunkte bekannt; seine Anhänger verbreiteten posthum seine Rechtslehre, welche auf der Überlieferung und der moderaten und von anderen Schulen inspirierter Anwendung vernunftorientierter Methoden beruhte.
In Bahrain besuchte die schiitische Mehrheit der Bevölkerung verschiedene Rechtsschulen. In Ägypten dagegen, wo man das Grabmal des großen Rechtsgelehrten Imāmal-Shāfi'ī verehrte, wurde von den ottomanischen Machthabern seit dem 16. Jahrhundert der Hanafismus verbreitet. Unter den Mameluken konnten allerdings in der im 13. Jahrhundert auf kreuzförmigem Grund errichteten madrasa al-Nāsir an einem Ort alle vier großen sunnitischen Rechtslehren erlernt werden.
Die Muqaddimah
Einige der Geschehnisse nach dem Ableben des Propheten werden in den etablierten Texten nicht wiedergegeben. Somit wurden sie nach bestimmten Regeln mit den anerkannten Verweisen aus dem Kanon verglichen und verbunden. Damit wurde die Plausibilität des Vergleichs zweier ähnlicher Fälle gewährleistet, sodass davon auszugehen war, dass ein und dasselbe göttliche Gesetz beide Fälle ab-deckt. Dies entwickelte sich zum rechtsgültigen Beweismittel, da alle der ersten Muslime damit über-einstimmten. Hier handelt es sich um Analogie (qiyas), die vierte Form des Beweises.
Auszug von Ibn Khaldūn in: Die Muqaddimah: Eine Einführung in die Geschichte, von Franz Rosenthal, 1967. In deutscher Übersetzung von Patrick Eger.
Ibn Khaldūn (1332-1406) wurde in Tunis als Sohn einer andalusischen Familie geboren, die Zuflucht in Ifrīqiya gefunden hatte, einer früheren römischen Provinz in Nordafrika. Er war ein herausragender sunnitischer Gelehrter und leidenschaftlicher Geschichtsschreiber, der viele Politiker nicht nur in Andalusien, sondern bis hin nach Ägypten beeinflusste. Er lehrte die Doktrin des Malikismus in der großen Moschee und Universität von al-Azhar in Kairo. Er fungierte auch als rigoroser und wichtigster qādī (Richter). 1377 verfasste er in Kairo die Muqaddimah, eine tausendseitige Abhandlung über politische Wissenschaft. Aber die vernünftige Deduktion nach den qiyās war nicht die Norm unter allen muslimischen Rechtsleuten; von den Schiiten abgelehnt und von schiitischen Autoritäten kritisiert, wurde die Natur dieser Art der logischen Schlussfolgerung von Philosophen und Theologen gleichermaßen stark diskutiert. Man debattierte darüber, ob es sich eher um einen Syllogismus oder rein analogisches Denken handele.
Fahrverbot für Frauen in Saudi-Arabien, nach Sara el Haydar
Meiner Ansicht nach ist es nicht der Islam selbst, der im Kontrast zu den Menschenrechten steht, also handelt es sich nicht um ein religiöses Problem. Auf kultureller Ebene ist die saudische Gesellschaft beim Thema der Fahrerlaubnis für Frauen gespalten und diese Spaltung basiert nur in geringem Maße auf individuellen und persönlichen Ansichten. Einige religiöse Extremisten unterstützen Frauen am Steuer, während andere, generell viel Liberalere und Progressivere, dagegen sind. Auch das Gegenteil trifft natürlich nicht selten zu. Einige religiöse Männer geben vor, der Islam erlaube es den Frauen nicht, zu fahren. Dies ist aber nur eine Frage der Interpretation religiöser Texte. Für mich ist das eine Instrumentalisierung des Islam; die Ehefrauen des Propheten Mohammed sind schließlich auch Kamele geritten, die Autos der damaligen Zeit! Der Islam verbietet es Frauen, alleine mit einem Fremden zu sein, doch genau das passiert doch, wenn sie einen Fahrer bezahlt. Somit ist eine Frau die fährt, der Religion treuer als eine, die sich fahren lässt!“
Interview mit Sara el Haydar, einer Universitätsprofessorin aus Riad, veröffentlicht in der französischen Tageszeitung Libération, am 25.10.2013. Englisch von Marie Lebert. In deutscher Übersetzung von Patrick Eger.
In Saudi-Arabien war der Hanbalismus – die offiziell anerkannte Rechtsschule – der Ursprung strikter sozialer Praktiken, wie z. B. der Sittenpolizei ab den 1940ern. Saudi-Arabien ist seit längerem das ein-zige Land der Welt, in dem Frauen nicht Auto fahren dürfen. Obwohl es ihnen kein offizielles Gesetz verbietet, können ihnen die Gemeinden schlicht keine Fahrerlaubnis ausstellen. 1990 belegte eine fatwā des Großen Mufti die Illegalität des Fahrens für Frauen auf Basis eines Prinzips des Schutzes - sadd al-dhara'i. Sein Ziel ist es, Leute davon abzuhalten, etwas zu tun, was per se noch nicht illegal ist, sie aber zu illegalen Handlungen verleiten könnte. Wenn man Frauen eine Fahrerlaubnis ausstellt, hat dies die Konsequenz zur Folge, dass man sie einer Versuchung aussetzt, bestimmte Handlungen zu vollziehen, die mit dem Islamischen Recht nicht in Einklang zu bringen wären. Sara el Haydar ist eine saudische Akademikerin. Sie sieht das Fahrverbot für Frauen hauptsächlich in sozialen Faktoren begründet, betont aber auch zwei andere Faktoren: Die Auslegung religiöser Texte durch konservative Autoritätsfiguren und die „Instrumentalisierung“ der Religion.
Fatwa* against terrorism published in London (2 March 2010).
Selbstmordattentäter „können nicht rechtmäßig behaupten, dass ihre Suizide sie zu Märtyrern und Helden der Ummah [der muslimischen Gemeinde] machen, nein, sie werden die Helden des Höllenfeuers sein“, sagte Dr. Tahir ul-Qadri. „Es gibt keinen Platz für das Märtyrertum und ihre Taten werden niemals als jihad [„heiliger Krieg“] anerkannt werden“, fügte er hinzu.
Auszug aus einem Artikel der französischen Tageszeitung Le Monde, 2.3.2010. In deutscher Übersetzung von Patrick Eger.
Tahir ul-Qadri ist ein pakistanischer Gelehrter, Rechtsexperte und Mitglied einer sufistischen Organisation. Als berühmter sunnitischer Jurist hielt er im März 2010 eine Pressekonferenz in London, um eine fatwā in Form eines fünfhundertseitigen Buches auf Urdu und Englisch zu präsentieren, die Selbstmord und alle Formen von Terrorismus verurteilt. Darin knüpfte er an den Koran, die Sunna und religiöse Autoritäten an.
Nach den Attacken des 11. September 2001 verurteilten viele muslimische Größen diesen Terrorakt. Dennoch legitimierten weiterhin einige offizielle Aussagen palästinensische Gewalt gegen Israelis oder die amerikanische Militärpräsenz im Irak.
Seit 2004 distanzieren sich viele Initiativen von religiösen Autoritäten, Gemeinschaften und Schriftstellern aus der islamischen Welt von allen Formen des Terrorismus und von Selbstmordanschlägen. In diesem Zusammenhang veröffentlichte ul-Qadri diese vernünftig belegte fatwā,die den Terrorismus – insbesondere den der Al Kaida – nachdrücklich verurteilt, ganz unabhängig von politischen Motiven oder den Ausübenden. In einem Interview erinnerte er das Publikum daran, dass „weder gute Absichten noch jeglicher Fehler einer fremden Außenpolitik noch eine textliche Quelle einen Terrorakt rechtfertigen können.“