7. Christliche Kirchen in der modernen Welt

Einführung
Das 16. Jahrhundert war nicht nur gekennzeichnet von den Reformationen: Es markiert zudem den Anfang einer wissenschaftlichen und geistigen Revolution, die auch dazu führte, dass die Wertvorstel-lungen der Kirchen und deren Rolle innerhalb der Gesellschaft in Frage gestellt wurden. Am Ende des 18. Jahrhunderts müssen diese sich mit der aufkommenden Säkularisierung (Verweltlichung) und der Entstehung neuer politischer Systeme, innerhalb derer das Christentum nicht mehr den unhintergeh-baren Rahmen bildete, auseinandersetzen. Ein Jahrhundert später bewirkten einschneidende, von der Industrialisierung hervorgerufene Umbrüche, dass auch die römisch-katholische Kirche sich der „sozialen Frage“ stellen muss.
Quelle 1

Syllabus Errorum

Der Syllabus complectens praecipuos nostrae aetatis errores („Verzeichnis der Irrtümer unserer heuti-gen Zeit“), oft auch einfach nur Syllabus, ist eine Auflistung von Thesen, die von Papst Pius IX. (Pontifikat 1846 -1878) als falsch verurteilt wurden. Jeder These werden Schriften zur Seite gestellt, die als Legitimation für die Verurteilung dienen. Der Syllabus bildete einen Anhang der Enzyklika Quanta Cura, die am 8. Dezember 1864 veröffentlicht wurde.

I. Pantheismus, Naturalismus und absoluter Rationalismus
3. Die menschliche Vernunft ist, ohne daß wir sie irgendwie auf Gott beziehen müßten, der einzige Richter über Wahrheit und Falsches, über Gut und Böse. Sie ist sich selbst Gesetz und mit ihrer natürlichen Kraft ausreichend, um das Wohl der Menschen und Völker zu sichern […].
II. Der gemäßigte Rationalismus
11. Die Kirche darf nicht nur überhaupt keine Erklärung gegen die Philosophie abgeben, sondern sie muß auch die Irrtümer dieser Philosopie dulden und es ihr selbst überlassen, sich zu verbessern […].
IV. Sozialismus, Kommunismus, Geheimgesellschaften, Bibelgesellschaften, liberale Kleriker-Gesellschaften
Derartige Seuchen werden oft und in schwerwiegenden Ausdrücken verworfen in Enzyklika Qui pluribus vom 9. November 1846, Ansprache Quibus quantisque vom 20. April 1849, Enzyklika Nostis et Nobiscum vom 8. Dezember 1849, Ansprache Singulari quadam vom 9. Dezember 1854, Enzyklika Quanto conficiamur mærore vom 10. August 1863.
V. Irrtümer über die Kirche und ihre Rechte
20. Die kirchliche Gewalt darf ihre Autorität ohne Erlaubnis und Zustimmung der staatlichen Gewalt nicht ausüben […].
VI. Irrtümer über die bürgerliche Gesellschaft, sowohl an sich, als auch in ihren Beziehungen zur Kirche
45. Die gesamte Leitung des öffentlichen Schulwesens, die dem Unterricht der Jugend eines christlichen Staates dient, mit gewissen Ausnahmen der bischöflichen Seminarien, kann und soll der weltlichen Autorität zuerkannt werden, sich in die Einrichtung und Ordnung der Schulen, in die Lehrordnung, in die Titelverleihung und in die Wahl und Genehmigung der Lehrer einzumischen […].
55. Die Kirche ist vom Staat und der Staat von der Kirche zu trennen […].
X. Irrtümer, die den Liberalismus unserer Tage betreffen
79. Es ist falsch, daß die staatliche Freiheit für jeden Kult und die allen gewährte Befugnis, frei und öffentlich ihre Meinungen und Gedanken kundzugeben, dazu führt, Geist und Sitte der Völker zu verderben und zur Verbreitung der Seuche des Indifferentismus führen.
80. Der Römische Papst kann und muß sich mit dem Fortschritt, dem Liberalismus und der modernen Zivilisation versöhnen und vereinigen.

Syllabus von Papst Pius IX (auch: Sammlung der von Papst Pius IX.
in verschiedenen Äußerungen geächteten Irrtümer). Online abrufbar unter URL:
http://www.domus-ecclesiae.de/magisterium/syllabus-errorum.teutonice.html (16.04.2015).

Quelle 2

Enzyklika Rerum Novarum

Die Enzyklika Rerum Novarum wurde von Papst Leo XIII. (Pontifikat 1878 – 1903) am 15. Mai 1891 veröffentlicht. Sie trug den Untertitel „Über die Arbeiterfrage“, formulierte die gesellschaftliche Lehre der Kirche und stellt die Antwort der römisch-katholischen Kirche auf die durch die Industrialisierung verursachten wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen dar. In großem Maße inspiriert von dem Handeln „sozialer Christen“, verurteilt diese Enzyklika die Arbeiterarmut und den exzessiven Kapitalis-mus, ebenso aber auch den „atheistischen Sozialismus“. Sie befürwortet ein christliches Gewerk-schaftswesen und ein Christentum im Dienste der Gesellschaft und befürwortete den Abbau sozialer Schranken zwischen den Gesellschaftsschichten.

Der Geist der Neuerung, welcher seit langem durch die Völker geht, mußte, nachdem er auf dem politischen Gebiete seine verderblichen Wirkungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen. Viele Umstände begünstigten diese Entwicklung; die Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt; es wächst in den Arbeitern das Selbstbewußtsein, ihre Organisation erstarkt; dazu gesellt sich der Niedergang der Sitten […].
Produktion und Handel sind fast zum Monopol von wenigen geworden, und so konnten wenige übermäßig Reiche einer Masse von Besitzlosen ein nahezu sklavisches Joch auflegen.
Zur Hebung dieses Übels verbreiten die Sozialisten, indem sie die Besitzlosen gegen die Reichen aufstacheln, die Behauptung, der private Besitz müsse aufhören, um einer Gemeinschaft der Güter Platz zu machen, welche mittels der Vertreter der städtischen Gemeinwesen oder durch die Regierungen selbst einzuführen wäre. Sie wähnen, durch eine solche Übertragung alles Besitzes von den Individuen an die Gesamtheit die Mißstände heben zu können, es müßten nur einmal das Vermögen und dessen Vorteile gleichmäßig unter den Staatsangehörigen verteilt sein. Indessen dieses Programm ist weit entfernt, etwas zur Lösung der Frage beizutragen; es schädigt vielmehr die arbeitenden Klassen selbst; es ist ferner sehr ungerecht, indem es die rechtmäßigen Besitzer vergewaltigt, es ist endlich der staatlichen Aufgabe zuwider, ja führt die Staaten in völlige Auflösung […].
Ein Grundfehler in der Behandlung der sozialen Frage ist sodann auch der, daß man das gegenseitige Verhältnis zwischen der besitzenden und der unvermögenden, arbeitenden Klasse so darstellt, als ob zwischen ihnen von Natur ein unversöhnlicher Gegensatz Platz griffe, der sie zum Kampf aufrufe. Ganz das Gegenteil ist wahr. Die Natur hat vielmehr alles zur Eintracht, zu gegenseitiger Harmonie hingeordnet; und so wie im menschlichen Leibe bei aller Verschiedenheit der Glieder im wechselseitigen Verhältnis Einklang und Gleichmaß vorhanden ist, so hat auch die Natur gewollt, daß im Körper der Gesellschaft jene beiden Klassen in einträchtiger Beziehung zueinander stehen und ein gewisses Gleichgewicht darstellen. Die eine hat die andere durchaus notwendig. So wenig das Kapital ohne die Arbeit, so wenig kann die Arbeit ohne das Kapital bestehen. Eintracht ist überall die unerläßliche Vorbedingung von Schönheit und Ordnung; ein fortgesetzter Kampf dagegen erzeugt Verwilderung und Verwirrung […].
Von diesen Pflichten berühren folgende die arbeitenden Stände: vollständig und treu die Arbeitsleistung zu verrichten, zu welcher sie sich frei und mit gerechtem Vertrage verbunden haben; den Arbeitgebern weder an der Habe noch an der Person Schaden zuzufügen; in der Wahrung ihrer Interessen sich der Gewalttätigkeit zu enthalten und in keinem Falle Auflehnung zu stiften; nicht Verbindung zu unterhalten mit Übelgesinnten, die ihnen trügerische Hoffnungen vorspiegeln und nur bittere Enttäuschung und Ruin zurücklassen.

Die Pflichten, die hinwieder die Besitzenden und Arbeitgeber angehen, sind die nachstehenden: die Arbeiter dürfen nicht wie Sklaven angesehen und behandelt werden; ihre persönliche Würde, welche geadelt ist durch ihre Würde als Christen, werde stets heilig gehalten; Arbeit und Erwerbssorgen erniedrigen sie nicht, vielmehr muß, wer vernünftig und christlich denkt, es ihnen als Ehre anrechnen, daß sie selbständig ihr Leben unter Mühe und Anstrengung erhalten; unehrenvoll dagegen und unwürdig ist es, Menschen bloß zu eigenem Gewinne auszubeuten und sie nur so hoch anzuschlagen, als ihre Arbeitskräfte reichen […].es ist ungerecht, sie mit mehr Arbeit zu beschweren, als ihre Kräfte tragen können, oder Leistungen von innen zu fordern, die mit ihrem Alter oder Geschlecht in Widerspruch stehen. Vor allem aber ist es Pflicht der Arbeitsherren, den Grundsatz: jedem das Seine, stets vor Augen zu behalten. Dieser Grundsatz sollte auch unparteisch auf die Höhe des Lohnes Anwendung finden, ohne daß die verschiedenen für die Billigkeit des Lohnmaßes mitzuberücksichtigenden Momente übersehen werden. Im allgemeinen ist in Bezug auf den Lohn wohl zu beachten, daß es wider göttliches und menschliches Gesetz geht, Notleidende zu drücken und auszubeuten um des eigenen Vorteils willen. Dem Arbeiter den ihm gebührenden Verdienst vorenthalten, ist eine Sünde, die zum Himmel schreit.

Enzyklika Rerum novarum. Online abrufbar unter URL:
http://www.uibk.ac.at/theol/leseraum/texte/320.html (16.04.2015).

Quelle 3

Karikatur aus Le Rire vom 20. Mai 1905

Diese Karikatur wurde während der Debatten veröffentlicht, die zur gesetzlichen Trennung von Kirche und Staat führten (in Kraft seit 9.12.1905) und zeigt Jean-Baptiste Bienvenu-Martin, der die Trennung der Religionen und des Staates vornimmt. Sie liefert eine gute Zusammenfassung der wichtigsten Punkte dieser Streitfrage. Die Präsenz eines Priesters symbolisiert eher die römisch-katholische Kirche als die anerkannten Konfessionen, was darauf deutet, dass ein Großteil der Schwierigkeiten von ihr ausging, da sie dem Konkordat von 1801 große Wichtigkeit beimaß. Außerdem erinnert Mariannes Gesicht an die religionsverfassungsrechtliche Überzeugung, der nach Staat und Kirche strikt zu trennen sein (Laizismus). Diese Überzeugung bildet einen der Grundpfeiler der französisch-republikanischen Staatsordnung. Der Mann, der die Teilung vornimmt, ist der „Minister für öffentliche Bildung, schöne Künste und Religionen“: Diese Amtsbezeichnung erinnert daran, dass die Frage des Laizismus in Frankreich zu aller erst im Schulsystem gestellt wurde.

Karikatur aus Le rire, erschienen am 20.5.1905.
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