10. Muslimische Minderheiten in Westeuropa
Die Anzahl der Muslime in der Europäischen Union wird auf rund 16 Millionen geschätzt, inklusive der mehr als 5 Millionen Muslime in Frankreich und knapp 4 Millionen in Deutschland. Die ersten Ansiedlungen und Familienvereinigungen von Muslimen in Europa führte zu neuen Definitionen postkolonialer Immigration in unterschiedlichen nationalen Kontexten je nach Stellung der Religion, den Bedingungen für den Erhalt der Staatsbürgerschaft oder Staatsangehörigkeit und die Sichtweise jeden Staates auf „Multikulturalismus“. Da die Einwanderer meist aus dar al-islam stammen, also aus Ländern unter islamischer Herrschaft, sind sie in der Regel an ein Leben unter autoritärer Herrschaft gewöhnt. Die eingewanderten, eingebürgerten und konvertierten Muslime in Europa sehen sich aber nun mit der staatlichen und gesellschaftlichen Ordnung ihrer Gastländer konfrontriert, die hoch-säkularisierte westliche Demokratien bilden. Diese Situation erzeugt möglicherweise Spannungen zwischen den Kulturen sowie zwischen den unterschiedlichen Rechtssystemen und dem muslimischen Privatrecht, insbesondere im Hinblick auf den Familienstand, Familienrecht und die Gesetzgebung der Staaten.
Muslime in Europa
http://www.ladocumentationfrancaise.fr/cartes/religions/c000892-les-musulmans-en-europe-en-2005 (19/12/2014)
Es wird zwischen der Gruppe in Westeuropa und der Gruppe auf dem Balkan unterschieden. Der Balkan umfasst die Regionen Südosteuropas bis hin zur Donau, wo der Islam die Minderheit bildet. Auf dem Balkan ist der Islam das Erbe der osmanischen Eroberungen im 14. Jahrhundert und der 500 Jahre andauernden Herrschaft, die mit einer fortschreitenden Islamisierung der Bevölkerung einherging. Die Muslime auf dem Westbalkan sprechen slawische Sprachen oder Albanisch, die Muslime auf dem Ostbalkan hingegen sprechen Türkisch.
Das Zivilrecht des Gastlandes und islamisches Recht [
Es ist logisch, dass die Gesetze eines Landes auch für dort lebenden Ausländer gelten und sich Ausländer um die Anpassung an die dort herrschenden Sitten bemühen sollten. Nur unter diesen Bedingungen ist eine Integration innerhalb der ansässigen Bevölkerung möglich. Für muslimische Migranten stellt sich dieses Unterfangen der Integration weitaus komplizierter dar. Die Familie nimmt weit mehr als in der westlichen Gesellschaft die zentrale Stellung innerhalb der Gesellschaftstruktur ein. Die Familienbande sind nicht nur, aber auch wegen des engen Verbundes mit der Religion so stark. Die Familie stellt einen wichtigen Bestandteil der sozialen und kulturellen Identität dar und schreibt eine gewisse Lebensweise vor, die sich nur schwer ändern lässt. Daher ist es nicht sicher, ob die Anwendung der weltlichen Gesetze auf die Familienbeziehungen auch immer ihrer Entwicklung förderlich ist.
Sélim Jahel, „La lente acculturation du droit maghrébin de la famille dans l'espace juridique français“, Revue internationale de droit comparé, 1994, éd. SLC, S. 33-57. Ins Deutsche übersetzt von Kerstin Bachmeier.
Die Gesetzgebung europäischer Staaten befindet sich manchmal im Konflikt mit der persönlichen, auf dem islamischen Recht basierenden Rechtsgebung ausländischer Muslime und ihrer meist im Gastland geborenen Kinder. Manche Juristen wie Selim Jahel, ein Wissenschaftler mit libanesischen Wurzeln und ein Experte auf dem Gebiet des arabischen Rechts, untersuchen die Möglichkeit, den Status des Privatrechts in den Gastländern etwas zurückzudrängen, und anstelle seiner das islamische Recht bei Familienangelegenheiten zur Förderung der Integration der in Europa lebenden Muslime mehr einzubeziehen. Halal bedeutet rechtmäßig, erlaubt und in Übereinstimmung mit den islamischen Normen. Das semantische Feld dieses Begriffs wurde erheblich erweitert, nachdem jüngere Generationen von Muslimen durch das Übertragen der Halal-Grundsätze auf ihre Ernährung, Kleidung und Liebesbeziehungen eine „Halal-Identität“ geltend machten. Dabei beziehen sie sich auf den Grundsatz einer binären Opposition zwischen dem was erlaubt und dem was verboten ist.
„Halal“-Hochzeit
Die im Rathaus stattfindende standesamtliche Eheschließung bietet die Möglichkeit, die Gemeinsamkeiten zur Mehrheitskultur zu vermehren. Die Rituale werden in säkularisierter Form ausgeführt und können somit von jungen Paaren und ihren Familien ungeachtet ihrer Religion genutzt werden: Die Braut trägt ein weißes Kleid, Ringe werden ausgetauscht, das Ehepaar präsentiert sich auf den Stufen, es werden Reis oder Blumenblüten geworfen, die Hochzeitsgemeinschaft fährt im Autokorso mit Gehupe durch die Stadt und versammelt sich für das Foto vor einem schönen Hintergrund […].
In der Hochzeitsfeier wird die Vermischung der Bräuche deutlich. Das Brautkleid ist das beste Beispiel dafür: Das weiße Kleid wird durch ein traditionelleres Kleid aus der Herkunftsregion der Frau oder des Mannes ersetzt. Auch die „Henna-Zeremonie“ wird zu diesem Anlass als Ausdruck des Wunsches gefeiert, eine vom Ursprungsland überlieferte Tradition zu bewahren; Braut und Bräutigam tragen die traditionelle Tracht. Bei den Feierlichkeiten können Männer und Frauen entweder zusammen feiern oder auch getrennt. Manche Familien halten sich zumindest bei bestimmten Teilen der Feier noch immer an die Trennung der männlichen und weiblichen Bereiche.
Die Halal-Hochzeit wird von den in Frankreich geborenen und aufgewachsenen Nachkommen nordafrikanischer Einwanderer gefeiert. Als identitätsstiftendes Merkmal dient dabei die Betonung mancher Grundsätze wie der Heirat innerhalb einer Kaste und der Jungfräulichkeit der Frauen bis zur Hochzeit. Dennoch ist sie im Vergleich zu traditionellen Hochzeiten innovativ und steht unter dem Einfluss des Hineinwachsens in die und des Anpassens an die französische Gesellschaft. Insbesondere die Rolle der Liebe und des Eheglücks als Bedingungen einer Ehe verdeutlichen, dass diese jungen Paare die allgemein vorherrschenden, als verbindlich angesehenen Regeln zur Heiratspraxis innerhalb der gegenwärtigen französischen Gesellschaft voll und ganz angenommen haben.
Beate Coolet, Emmanuelle Santelli, „Le mariage ‚halâl‘. Réinterprétation des rites du mariage musulman dans le contexte post-migratoire français“, Recherches familiales, 2012/1,2 Nr 9, Union Nationale des Associations familiales, Paris, S. 83 – 92. Ins Deutsche übersetzt von Kerstin Bachmeier.
Eine muslimische Hochzeit ist mit einer sakramentalen Eheschließung wie in der katholischen Kirche nicht vergleichbar. Eine „Halal-Hochzeit“ ist eine Wortneuschöpfung. Der Ausdruck wird überwiegend von jungen Leuten in der muslimischen Kultur verwendet. Er bezieht sich auf eine „Mischung“ aus Ritualen des Maghrebs, des Nahen und Mittleren Ostens und des Westens. Das neue Konzept einer „Halal-Hochzeit“ ist äußerst beliebt bei Einwanderern der zweiten Generation, sodass sich ein eigener Markt dafür mit „östlichen Hochzeitsmessen“ und spezialisierten Geschäften und Dienstleistungen entwickelt hat.