2. Die Erzählung von den „Menschen in der Höhle“ im Koran (Sure al-Kahf). Eine Überlieferung der nahöstlichen/orientalischen Tradition. Die Verheißung der Auferstehung
Die in Sure 18 des Korans geschilderte Erzählung über die in einer Höhle (al-Kahf) schlafenden jungen Menschen sowie die im 13. Jahrhundert in Goldene Legende von Jacobus de Voragine verbreitete christliche Überlieferung der sieben Märtyrer entsprangen einer gemeinsamen aus Syrien stammenden Tradition. Das „Wunder“ dieser jungen Menschen, die drei Jahrhunderte lang schliefen, inspirierte viele lebhafte Legenden, die sich in der ganzen muslimischen Welt weit über ihren Ursprung hinaus verbreiteten. Die Geschichte brachte zudem sehr beliebte Formen der Anbetung/Andacht hervor. Heute werden diese Legenden insbesondere im Mittelmeerraum „wiederentdeckt“ und vom Tourismus, in der überlieferten Tradition oder sogar als politische Speerspitzen genutzt.
Quran 18, 10-25.
10 Als die Jünglinge in der Höhle Zuflucht suchten und sagten: „Unser Herr, gib uns Barmherzigkeit von Dir aus, und bereite uns in unserer Angelegenheit einen rechten (Aus)weg.“
11 Da ließen Wir sie in der Höhle für eine Anzahl von Jahren in Dauerschlaf fallen.
12 Hierauf erweckten Wir sie auf, um zu wissen, welche der beiden Gruppierungen am richtigsten die Dauer ihres Verweilens erfaßt hat.
13 Wir berichten dir ihre Geschichte der Wahrheit entsprechend. Sie waren Jünglinge, die an ihren Herrn glaubten und denen Wir ihre Rechtleitung mehrten.
14 Und Wir stärkten ihre Herzen, als sie aufstanden und sagten: „Unser Herr ist der Herr der Himmel und der Erde. Wir werden außer Ihm keinen (anderen) Gott anrufen, sonst würden wir ja etwas Unrechtes sagen.
15 Dieses, unser Volk hat sich außer Ihm (andere) Götter genommen. Wenn sie doch für sie eine deutliche Ermächtigung bringen würden! Wer ist denn ungerechter, als wer gegen Allah eine Lüge ersinnt?
16 Und da ihr euch nun von ihnen und von demjenigen, dem sie außer Allah dienen, fernhaltet, so sucht Zuflucht in der Höhle; euer Herr wird über euch (einiges) von Seiner Barmherzigkeit ausbreiten und euch in eurer Angelegenheit eine milde Behandlung bereiten.“
17 Und du siehst die Sonne, wenn sie aufgeht, sich von ihrer Höhle zur Rechten wegneigen, und wenn sie untergeht, an ihnen zur Linken vorbeigehen, während sie sich darin in einem Raum befinden. Das gehört zu Allahs Zeichen. Wen Allah rechtleitet, der ist (in Wahrheit) rechtgeleitet; wen Er aber in die Irre gehen läßt, für den wirst du keinen Schutzherrn finden, der ihn den rechten Weg führt.
18 Du meinst, sie seien wach, obwohl sie schlafen. Und Wir drehen sie nach rechts und nach links um, während ihr Hund seine Vorderbeine im Vorraum ausstreckt. Wenn du sie erblicktest, würdest du dich vor ihnen fürwahr zur Flucht kehren und vor ihnen fürwahr mit Schrecken erfüllt sein.
19 Und so erweckten Wir sie auf, damit sie sich gegenseitig fragten. Einer von ihnen sagte: „Wie lange habt ihr verweilt?“ Sie sagten: „Verweilt haben wir einen Tag oder den Teil eines Tages.“ Sie sagten: „Euer Herr weiß am besten, wie (lange) ihr verweilt habt. So schickt einen von euch mit diesen euren Silbermünzen in die Stadt; er soll sehen, welche ihre reinste Speise ist, und euch davon eine Versorgung bringen. Er soll behutsam sein und ja niemanden etwas von euch merken lassen.
20 Denn wenn sie von euch erfahren, werden sie euch steinigen oder euch (zwangsweise) zu ihrer Glaubensrichtung zurückbringen; dann wird es euch niemals mehr wohl ergehen.“
21 So ließen Wir (die Menschen) sie doch entdecken, damit sie wissen, daß Allahs Versprechen wahr ist und daß es an der Stunde keinen Zweifel gibt. Als sie untereinander über ihre Angelegenheit stritten, da sagten sie: „Errichtet über ihnen einen Bau. Ihr Herr weiß am besten über sie Bescheid.“ Diejenigen, die in ihrer Angelegenheit siegten, sagten: „Wir werden uns über ihnen ganz gewiß eine Gebetsstätte einrichten.“
22 (Manche) werden sagen: „(Es waren ihrer) drei, ihr Hund war der vierte von ihnen.“ Und (manche) sagen: „(Es waren ihrer) fünf, der sechste von ihnen war ihr Hund.“ – Ein Herumraten über das Verborgene. Und (manche) sagen: „(Es waren ihrer) sieben, und der achte von ihnen war ihr Hund.“ Sag: Mein Herr kennt ihre Zahl am besten; nur wenige kennen sie. Darum streite über sie nur in offensichtlichem Streit, und frage niemanden von ihnen um Auskunft über sie.
23 Und sag ja nur nicht von einer Sache: „Ich werde dies morgen tun“,
24 außer (du fügst hinzu): „Wenn Allah will.“ Und gedenke deines Herrn, wenn du (etwas) vergessen hast, und sag: „Vielleicht leitet mich mein Herr zu etwas, was dem rechten Ausweg näher kommt als dies.“
25 Und sie verweilten in ihrer Höhle dreihundert Jahre und noch neun dazu.
26 Sag: Allah weiß am besten, wie (lange) sie verweilten. Sein ist das Verborgene der Himmel und der Erde. Wie vorzüglich ist Er als Allsehender, und wie vorzüglich ist Er als Allhörender! Sie haben außer Ihm keinen Schutzherrn, und Er beteiligt an Seiner Urteilsgewalt niemanden.
Quran 18, 10 – 26. Übersetzt von: Abdullah As-Samit (F. Bubenheim) und Nadeem Elyas. Empfohlene Quellenangabe: Mit Allahs Hilfe ist diese Auflage des Qur'an mit der Übersetzung seiner Bedeutungen vom König-Fahd-Komplex zum Druck vom Qur'an in al-Madina al-Munauwara unter Aufsicht des Ministeriums für Islamische Angelegenheiten, Stiftungen, Da-Wa und Rechtweisung im Königreich Saudi-Arabien herausgegeben worden. 1424 n.H./2003 n.Chr. (2. Auflage). Online abrufbar unter URL: www.islam.de (23.04.2015). http://en.wikisource.org/wiki/Quran_%28Progressive_Muslims_Organization%29 (19/12/2014)
Diese Erzählung im Koran ist inspiriert von christlichen Traditionen. Die Geschichte ist äußerst kurz, aber dennoch höchst komplex. So sind die Elemente der Erzählung in sich verwoben und weisen einige mysteriöse Begriffe auf. Wer sind diese eingesperrten jungen Leute, die im Koran als „Menschen von al-raqim“ bezeichnet werden? Ist al-raqim ein Ort? Ein Buch? Ein Stein, auf dem geschrieben wurde? Wie viele Menschen waren es? Aus welchen Umständen suchten sie Unterschlupf in der Höhle nahe einer Stadt, deren Name ein Mysterium bleibt? Wir können vermuten, dass sie vor Götzenanbetern geflohen sind und ihrem Glauben an nur einen Gott weiterhin folgten (14-16). Stimmt die Dauer der verstrichenen Zeit von 300 Jahren mit dem Unterschied zwischen dem Sonnen- und dem Mondkalender überein? Was hat der Hund vor der Höhle zu suchen in Anbetracht der Tatsache, dass Hunde in der muslimischen Tradition als unreine Tiere gelten? Warum kümmerte sich Gott um die jungen Menschen und brachte sie zurück? Im Folgenden sind nur manche Verse der Sure 18 wiedergegeben, da wir uns nur auf die wesentlichen Aspekte konzentrieren. Die Umstände: Die Schläfer mussten ihren Glauben (Verse 12 und 13) vor einem götzendienenden Prinz verteidigen. Daraufhin verließen sie die Götzenanbeter und fanden Zuflucht in einer Höhle. Ihr Abenteuer kann als Lehrstück für Glaubensanhänger dienen. Die Loyalität der Schläfer zu Gott wurde belohnt. Gott wachte über sie und erweckte sie. Ebenso wie diese jungen Menschen sollen sich auch Muslime voll und ganz einem allwissenden und alles entscheidenden Gott hingeben. Insbesondere Vers 20 ist von einer Rhetorik der Erlösung inspiriert: Diejenigen, die sich ihm hingeben, werden wieder auferstehen beim Jüngsten Gericht. Dem Koran zufolge beschlossen die Entdecker dieses außergewöhnlichen Abenteuers die Schläfer zu würdigen, indem sie ein Gebäude (je nach Übersetzung eine „Kirche“ oder einen „Altarraum“) über der Höhle errichteten. Das Gebäude ist keine Moschee; diesen Name erhielt die islamische Verehrungsstätte erst später.
Die Überlieferung der Legende von den Sieben Schläfern
Die Bilder stammen aus der Privatsammlung des Orientalisten Louis Massignon. An dieser Stelle sei die ähnliche Darstellungsweise in christlichen und islamischen Bildern betont.
Manoël Penicaud: « Nouveaux réveils des Sept Dormants et étude de cas en Méditerranée » published in « Les pratiques religieuses et leurs relais culturels », Science et Video, des écritures multimedia en sciences humaines, n° 4 (undated). http://scienceandvideo.mmsh.univ-aix.fr/numeros/4/Pages/5.aspx (19/12/2014)
Der Mythos der Sieben Schläfer im Kontext der „Jasminrevolution“ in Tunesien
Im revolutionären Kontext des sogenannten Arabischen Frühlings wurde der Mythos der Sieben Schläfer in Tunesien jüngst wieder seitens politischer Aktivisten aufgegriffen. So verfasste der tunesische Autor Mohsen Lihideb Ende Januar 2011 einen Text mit dem Titel „Die Hai-Jagd“. Darin nimmt er explizit auf die Sieben Schläfer Bezug, indem er von der Rückkehr von Fischern, die ihre Stadt nach der Flucht des Tyrannen (Zine El Abidine Ben Ali) verändert vorfinden, erzählt. Dem Mythos kommt hierbei eine politische Bedeutung zu. Sein eschatologischer Gehalt verblasst. Vor Ben Alis Niedergang in Tunesien gestaltete eine Gruppe junger Künstler und politischer Aktivisten regimekritische Straßenkunst und gab sich daher den Namen „Ahl al-Kahf“ (Arabisch für „die Menschen der Höhle“). Der Bezug zu den Schläfern lässt sich mit der geheimen Natur der Untergrundbewegung erklären (wie die Schläfer suchten auch sie Unterschlupf in der Höhle, ohne ihre Werte zu verraten). Auch nach Ben Alis Abdankung machte die Gruppe weiterhin revolutionäre Kunst im städtischen Raum.
Wie Nelken in Portugal (1974) oder Rosen in Georgien (2003) wurde der Jasmin als die symbolische Blume Tunesiens zum Namensgeber für die Proteste, die 2011 zum Umsturz des seit 1987 amtierenden Präsidenten Ben Ali führten. Während Ben Alis Regierungszeit war Jasmin ein fester Bestandteil aller Touristenbroschüren, die das „Land des Jasmins, das auf gemeinsam geteilten Werten basiert, als tolerant und „sorgenfrei“ anpriesen. 2011 wurde der Jasmin zum Symbol der Rebellion. Die dargestellten Beispiele veranschaulichen, wie eine Erzählung aus dem Koran innerhalb der muslimischen Kulturen zu neuer Bedeutung gelangt.
Manoël Penicaud: „Nouveaux réveils des Sept Dormants et étude de cas en Méditerranée“ veröffentlicht in „Les pratiques religieuses et leurs relais culturels“, Science et Video, des écritures multimedia en sciences humaines, Band 4 (ohne Datum). http://scienceandvideo.mmsh.univ-aix.fr/numeros/4/Pages/5.aspx (19/12/2014). Ins Deutsche übersetzt von Kerstin Bachmeier.