4. Der „Besuch“ bei den Heiligen

Einführung
Der „Besuch“ (Zyara) bei den „Freunden Gottes“, den awliya' Allah, ist äußerst beliebt. Die Zyara ist ein segensreicher Besuch, der in der gesamten muslimischen Welt verbreitet ist. Er umfasst Andachten, Gebete, Opfergaben und Wünsche in verschiedenen Ausprägungen, die viele Autoren seit Ibn Taymiyyah aus theologischen und religiösen Gründen vehement anprangerten: Gott ist einzigartig und hat keinen „Begleiter“; nur Gott alleine kann verehrt werden. Trotz dieser Angriffe wurde die Zyara zu den Grabmählern der Heiligen weiterhin betrieben und durch die Fortschritte im Transportwesen sogar begünstigt. Über welche Kräfte verfügen die Heiligen? Hat dieser „Besuch“ eigene, besondere Rituale oder werden die den Pilgern in den großen heiligen Städten des Islams vorbehaltenen Rituale imitiert? Welche Argumente bringen jene vor, die diese Form der Anbetung verurteilen?
Quelle 1

Der Schrein der Fatima Masuma in Ghom (Iran)

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Public domain. Bild unter URL:
http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Fatimah_Ma%27sumah_Shrine_Qom_14.jpg

Wegen ihrer Nähe zur Familie der Imamen wird Fatima al-Masuma von den Zwölferschiiten verehrt. Als Tochter des siebten Imam der Schiiten wurde sie angeblich von Abbasidas während eines Besuchs bei ihrem Bruder Reza, dem achten Imam der Schiiten, vergiftet (vgl. Modul Islam I, Seite 5). Sie wurde Ma'sumah genannt, was die Reine, die Unschuldige bedeutet. Ihr wird die Vollbringung verschiedener Wunder zugeschrieben. Ihr Grabmal befindet sich in der Universitätsmoschee der Stadt Ghom im Iran. Im Laufe der Jahrhunderte wurde das Gebäude weiter ausgeschmückt, insbesondere von der Dynastie der Safawiden, die den Schiismus als offizielle Religion annahm. Wegen seiner beeindruckenden Ausmaße wird das im 19. Jahrhundert renovierte Heiligtum von sechs Minaretten und einer Goldkuppel überragt. Eine riesige Grabkammer von mehr als vier Metern Höhe thront auf dem Ehrengrabmal. Die Mullahs sind an ihren weißen Turbanen zu erkennen.

Quelle 2

Der Ausflug zum Schrein der Fatima Masuma

[…] Mit der Verwaltaung des Heiligtums durch Berufsgeistliche lässt sich ein eventuelles Abdriften in private Verehrungsweisen vermeiden. Bei der Ankunft im Heiligtum wird der Pilger in der Regel dazu aufgefordert, sich von einem Berufsgeistlichen – oder vielmehr einem Gebeteerzähler – begleiten zu lassen, der ihm nur Gutes über die Heilige und ihre Familie berichtet [...]. Nachdem sich der Pilger am Eingang seiner Schuhe entledigt, tritt er mit offenen Händen ein, um in den Hallen des Heiligtums einen Segen zu erhalten. Seine religiöse Ergriffenheit wird dabei von einer tränenreichen Darbietung steter Ausrufe, Rezitationen aus dem Koran und beschwörender Gebete gestärkt. An diesem heiligen Ort voller ehrfürchtiger Gefühle ist es völlig normal zu weinen. Die Tränen werden geopfert, um das Herz zu erleichtern. Der Pilger weint zusammen mit dem Imam, der ihn begleitet sowie den zwölf Imamen und ihren Familien. Er versetzt sich an die Stelle der Begleiter des Imams und vergisst beim Weinen für einen Moment die vielen unbedeutenden und profanen Dinge des Alltags. Diese meditative Handlung wird ununterbrochen fortgeführt von der Pilgerschaar, die in ritueller Umschreitung das Heiligtum umkreist. Die Pilger drängen an das Tor des Schreins, um es für einen Augenblick zu küssen und möglicherweise eine Opfergabe in Form einer Notiz, eines Bittgebets oder eines Wunsches durch einen Spalt zu schieben.

Yann Richard, „Qom, un lieu sacré en Iran“, Lieux d'islam, Autrement Collection Monde Paris, H.S. N° 91 – 92, Februar 1996, S. 65 – 66. Ins Deutsche übersetzt von Kerstin Bachmeier.

Pilger praktizieren bestimmte Rituale, wie das Vorlesen von Versen aus dem Koran oder Segenswünschen und das Umkreisen der Grabkammer (wie in der Pilgerfahrt nach Mekka vorgeschrieben). Die vollständige Durchführung des Rituals ist eine grundlegende Voraussetzung für den Erhalt des Segens der Heiligen. Die Verwaltung dieses äußerst beliebten Grabmals ist oft zur Regulierung der Pilgerströme gezwungen, um eine Überfüllung zu vermeiden

Quelle 3

Die Rechtmäßigkeit der Zyara

Allah hat manche Orte als Symbol seiner Ehre und Erhabenheit auserwählt. Die Kaaba beispielsweise ist einer davon (...). Die Menschen sind inspiriert von und gesegnet mit einer brennenden Leidenschaft, diese Orte zu besuchen. Dafür kommen sie aus allen Ecken der Welt zusammen, egal ob auf dem Rücken von Tieren oder zu Fuß. Sie alle kommen von weit her um das Haus Allahs zu sehen. Dabei trotzen sie den Entbehrungen der Reise, tragen die vorgeschriebene, nahtlose Keidung und erreichen den Ort mit dem für Pilger typischen Erscheinungsbild und der besonderen Körperhaltung. Im Namen Allahs erbringen sie Opfer, erfüllen ihre Gelübde, umkreisen das Haus Allahs und kommen ihren innersten Sehnsüchten nach, indem sie bei der Ankunft ihre Dankbarkeit gegenüber dem Herrn zum Ausdruck bringen (...) All diese Dinge sind Allah allein vorbehalten. Sie sind Ausdruck der Huldigung, Ehrerbringung und Verehrung sowie Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Allah. Die Durchführung dieser Handlungen zur Besänftigung anderer Wesen neben Allah ist daher verboten und gilt als Abgötterei oder Schirk. Eine mit Mühsal und Entbehrung verbundene Reise zu anderen fernen Orten zu unternehmen, nur um in zerissenen und schmutzigen Kleidern das Grab oder die Stätte eines Heiligen zu besuchen, gilt ebenso als Schirk. Auch die Darbringung von Tieropfern nach der Ankunft, die Erfüllung der Gelübde, die Umrundung anderer Häuser oder Gräber, die Wahrung der umliegenden Wälder, der Verzicht auf die Jagd, das Bäumefällen und das Ausreißen von Gras oder Halmen sowie die Durchführung anderer ähnlicher Handlungen und insbesondere die Erwartung und Vorfreude auf das Gute in dieser Welt und der Nachwelt als Folge dieser Handlungen werden als Schirks erachtet, die es zu vermeiden gilt.

Isma'il Shahid, Taqwiyat-ul-Iman (The Strenthening of Faith), 1824. Ins Deutsche übersetzt von Kerstin Bachmeier.

Isma‘il Shahid (1779-1831) war ein sunnitischer Religionsreformer aus Indien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die Mughal-Dynastie ihren Einfluss verloren und Indien wurde vom Britischen Empire sowie der East India Company in Kalkutta verwaltet. Der Wahhabismus hatte damals einen Einfluss auf die muslimischen Gelehrten in Indien. In seinem Werk The Strengthening of Faith vertritt Isma‘il Shahid die Lehre von der Einheit und Einzigkeit Gottes und ruft die Muslime in Indien dazu auf, die große Pilgerfahrt, die Haddsch (die fünfte Säule des Islam) anzutreten, welche damals nur selten von Muslimen in Indien praktiziert wurde. Sein Buch, eines der ersten in der Volkssprache Urdu verfassten Religionsbücher, war auch unter dem gemeinen Volk sehr beliebt. Darin prangerte er die Heiligenverehrung an, welche in den Augen der fundamentalistischen Reformanhänger eine unverzeihliche Form der Assoziation (Arabisch shirk) und eine zu bestrafende Neuerung darstelle. Die Rituale der Haddsch einschließlich des Tawaf (das siebenmalige Umkreisen der Kaaba) sowie das Niederknien und die Verehrung seien für Gott alleine vorbehalten.

Quelle 4

Das Grabmausoleum des bedeutenden Rechtsgelehrten ash Shafi’i (Kairo)

Isma‘il Shahid (1779-1831) war ein sunnitischer Religionsreformer aus Indien. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte die Mughal-Dynastie ihren Einfluss verloren und Indien wurde vom Britischen Empire sowie der East India Company in Kalkutta verwaltet. Der Wahhabismus hatte damals einen Einfluss auf die muslimischen Gelehrten in Indien. In seinem Werk The Strengthening of Faith vertritt Isma‘il Shahid die Lehre von der Einheit und Einzigkeit Gottes und ruft die Muslime in Indien dazu auf, die große Pilgerfahrt, die Haddsch (die fünfte Säule des Islam) anzutreten, welche damals nur selten von Muslimen in Indien praktiziert wurde. Sein Buch, eines der ersten in der Volkssprache Urdu verfassten Religionsbücher, war auch unter dem gemeinen Volk sehr beliebt. Darin prangerte er die Heiligenverehrung an, welche in den Augen der fundamentalistischen Reformanhänger eine unverzeihliche Form der Assoziation (Arabisch shirk) und eine zu bestrafende Neuerung darstelle. Die Rituale der Haddsch einschließlich des Tawaf (das siebenmalige Umkreisen der Kaaba) sowie das Niederknien und die Verehrung seien für Gott alleine vorbehalten.

The mausoleum of the great jurist al-Shafi’i (Cairo).
http://www.explorewithmwnf.net/m...1&mid=329
Catherine Mayeur-Jaouen, "Coupoles et minarets l’Égypte" Lieux d'islam, La Découverte, Autrement Coll. Monde HS n° 91-92, 1996 p. 124-125.

Das Grab des Imamen Shafi‘i [vgl. Modul Islam I, Seite 7] wurde auf einem weitläufigen, im Mittelalter von den arabischen Reisenden verehrten Friedhof errichtet. Damals pilgerten die Menschen zu den vermeintlichen Gräbern der Begleiter Gottes und den Angehörigen der Prophetenfamilie. Auch die Mausoleen der Sultane und Heiligen befinden sich dort. Dieser wichtige Ort der Verehrung zieht überwiegend Frauen an Freitagen oder den großen religiösen Feiertagen an. Die an den Imam gerichteten Bittgesuche und Briefe der Muslime zeigen, dass der religiöse Eifer für ihn nicht verblasst ist. Die Bittgesuche sind äußerst unterschiedlich und stets verbunden mit dem alltäglichen Leben der Ägypter. Die Menschen bitten den Imam um Heilung, um Hilfe bei der Suche nach einem verlorenen Huhn oder bei der Verfolgung von geflohenen Mördern. Die ihm zugeschriebenen Wunder trugen zu seinem ägyptenweiten Ruhm bei.